Graz: Der Täter und wir Medien

Über die schwierige Suche nach den Grenzen der Berichterstattung und die Frage, ob profil sie übertreten hat.

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Niemanden nimmt profil so ernst wie seine Leserinnen und Leser. Deshalb machte mich ein Mail einer Abonnentin nachdenklich, die uns wegen unserer Online-Berichterstattung über den Amoklauf in Graz vorwarf, profil-Reporter hätten „im Umfeld des Täters und sogar dessen Familie herumgeschnüffelt“, dabei die Staatstrauer ignoriert, und sie seien „pietätlos“ vorgegangen. Am Ende stellte sie die Frage: „Kann man nicht einfach nur schweigen oder sachlich das Notwendigste berichten?“

Was ist geschehen? Daniela Breščaković und Clemens Neuhold, beide Mitglieder der profil-Redaktion, sind sofort nach Bekanntwerden der schrecklichen Tat nach Graz gefahren, um zu recherchieren. Sie fuhren zur Schule und zum Kriseninterventionszentrum, und nachdem sie die Information erhielten, wo der Täter gewohnt hat, machten sie sich auch dorthin auf den Weg.

Ist diese Art von Recherche unmittelbar nach einem Verbrechen mit so vielen Opfern ethisch korrekt? Die – gar nicht theoretische – Gegenfrage lautet: Wie lange soll man warten, ehe man das Umfeld eines Täters beleuchtet? Mehrere Tage, Wochen, Monate? Bei der Beurteilung dieser Frage ist es wichtig, eines festzuhalten: Jeder, der mit profil-Reportern spricht, tut dies selbstverständlich freiwillig. Als profil am Dienstag in dem Haus, in dem der Täter gewohnt hatte, mit Nachbarn sprach, standen sie mit ihnen im Stiegenhaus. Nur wer etwas erzählen wollte, erzählte.

In diesem Moment kamen die Mutter und ein Bruder des Täters nach Hause, und die profil-Reporter hätten auch mit ihnen gern gesprochen. Sie klingelten, niemand öffnete, also fand kein Gespräch statt. Diese Vorgangsweise entspricht aus meiner Sicht sowohl der journalistischen Ethik als auch dem menschlichen Anstand.

Der Bericht, der schließlich auf profil.at erschien, enthielt keine einzige Angabe, die den Wohnort oder die Personen identifizierbar gemacht hätte: weder den Namen der Gemeinde noch den Vornamen oder Nachnamen des Täters.

Ich halte all das für korrekt, aber ich bin offen für Widerspruch.

Die kleine Debatte über die profil-Recherche ist Teil einer viel größeren Auseinandersetzung über die Gefahren medialer Berichterstattung in Fällen von „School Shootings “ (so nennt man Amokläufe an Schulen) und Terroranschlägen. In den USA, wo die Zahl der School Shootings am höchsten ist, wurden viele Studien erstellt, die belegen, dass die Darstellung dieser Verbrechen in den Medien Nachahmungstäter motivieren kann. Was also tun?

Das Wichtigste ist, dass durch die Art der medialen Darstellung die Möglichkeit, sich mit dem Täter zu identifizieren, minimiert wird.

Eine Maxime gilt absolut: den Namen des Täters nicht zu nennen. „Don’t Name Them“ heißt die Kampagne, die in den USA in Zusammenarbeit mit der Bundespolizeibehörde FBI konzipiert wurde. Doch die Forderungen gehen weit darüber hinaus. Eine Studie, veröffentlicht im „American Journal of Public Health“, nennt Elemente, die einem Täter zu Prominenz und – in der Risikogruppe – zu höherem sozialen Status verhelfen können: Fotos, insbesondere solche, auf denen er mit Waffen zu sehen ist; die Wiedergabe eines von ihm verfassten Manifests; die genaue Darstellung des Tathergangs; die wiederholte Erwähnung der Opferzahl; vertiefte Erörterungen möglicher Tatmotive; genaue Schilderungen seines Lebenslaufes … Insgesamt solle die Quantität der Berichterstattung gering gehalten werden, so die Studie.

In der Realität kann man sich diesen Vorgaben bestenfalls annähern. Medien sollten keine kenntlichen Porträtfotos des Täters veröffentlichen, den Tathergang nur oberflächlich beschreiben und auf illustrierende Grafiken verzichten. Wie aber soll man vermeiden, dass alle Medien intensiv über ein so aufwühlendes Ereignis berichten und überall die Opferzahl genannt wird? Die Rekonstruktion des Lebenslaufs und möglicher Motive wiederum dient bei vielen wissenschaftlichen Open-Source-Studien sogar als Forschungsgrundlage. Und nicht zuletzt will die Öffentlichkeit Antworten auf die Fragen: Wer? Und: Warum?

Das Wichtigste ist, dass durch die Art der medialen Darstellung die Möglichkeit, sich mit dem Täter zu identifizieren, minimiert wird. Das ist der Auftrag an uns Medien.

Allerdings sind wir nicht mehr allein da. Ein beklemmendes Handy-Video, das während der Tat in der Schule gefilmt wurde – und das profil niemals zeigen würde – bekam auf einem einzigen TikTok-Account fast 300.000 Likes.

Robert Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur