Graz: Die Chronik eines beispiellosen Verbrechens
Von Daniela Breščaković und Clemens Neuhold
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Dienstag, 10. Juni, 14.30 Uhr. „Ubili su mi dijete“ – „Sie haben mein Kind getötet“, sagt eine Mutter. Ihre Stimme zittert, Tränen laufen über ihr Gesicht, während sie sich in ihr Auto setzt. Ihre Tochter ist eines der zehn Todesopfer des Amoklaufs am Grazer Gymnasium BORG Dreierschützengasse. Sie stammt aus Bosnien-Herzegowina. Über vier Stunden wusste sie nicht, was mit ihrem Kind geschehen war. Ein Mann, der gerade sein Kind abholt, bekommt die Szene mit. Bei dem Gedanken, das Opfer hätte sein Kind sein können, verdunkelt sich seine Miene.
Nach und nach treffen grüne Busse der Grazer Linien auf Sonderfahrt ein. Drinnen sitzen die Schülerinnen und Schüler, blass, verstört, stumm. Die Angst steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Kurz vor dem Ankommen bei der ASKÖ-Sporthalle, die zu einem provisorischen Krisenzentrum umfunktioniert wurde, kollabiert ein Mädchen in einem der Busse. Sanitäter greifen sofort ein. Ein Vater lehnt an der Wand, eine Psychologin spricht ihn an. „Brauchen Sie Hilfe?“, fragt sie leise. Er nickt kaum merklich, nimmt einen Schluck aus seiner Wasserflasche. Seine Tochter ist noch nicht da.
Ein anderer Mann in Arbeitskleidung läuft an den Einsatzkräften vorbei, atemlos, orientierungslos. Er spricht kaum Deutsch, versteht nicht, wohin er soll. Vor dem Eingang müssen sich die Angehörigen registrieren. Ausweis, Name, Klasse des Kindes. Erst dann dürfen sie in die Halle. Aber die meisten Eltern bleiben draußen stehen. Sie schauen in jeden ankommenden Bus, versuchen, Gesichter zu erkennen. Ist mein Sohn dabei? Meine Tochter? Ihre Blicke tasten suchend die Fensterscheiben ab. Manche tragen noch Arbeitskleidung. „Das ist ein Wahnsinn. Er soll in der Hölle schmoren“, ruft ein Vater. Immer mehr Menschen versammeln sich um und in der ASKÖ-Halle. Eltern drücken ihre Kinder an sich, halten ihre Hände, steigen ins Auto, fahren nach Hause oder woandershin. Hauptsache weg.
15.16 Uhr. Der letzte Bus trifft ein. Drinnen in der Turnhalle werden weiterhin die Familien der jeweiligen Klassen aufgerufen, um ihre Kinder in die Arme zu schließen. Einer jungen Frau bleibt diese Erlösung verwehrt. „Sie hat doch noch gelebt“, hört man sie schreien. Dann sackt sie zusammen. Sanitäter eilen herbei, bringen einen Rollstuhl. Sie hat gerade erfahren, dass ihre jüngere Schwester ihren Verletzungen erlegen ist.
An diesem Tag liegt alles nah beieinander: die Schule, aus der die Kinder flohen. Die Sporthalle, in der Eltern auf ein Lebenszeichen warteten. Das Unfallkrankenhaus, in dem Ärztinnen und Ärzte um Leben kämpfen – manche von ihnen zurückbeordert aus dem Urlaub. Und das LKH West, wohin andere Opfer verlegt wurden. Die Verletzten sind zwischen 15 und 26 Jahre alt. Am Donnerstag befanden sich noch elf Personen in den Krankenhäusern.
Sieben Minuten lang gab der 21-jährige A. Schüsse ab und versetzte Graz und ganz Österreich in einen Schockzustand. Nach dem schlimmsten Amoklauf in der Geschichte des Landes versucht nun ein Netz aus Helfern, die betroffenen Schüler, Eltern und Lehrer aufzufangen. Ihnen beim Übergang in ein Danach zu helfen, das noch so weit weg ist. Unterdessen kommen immer neue Details über Täter und Tat ans Licht. Und die Frage wird lauter: Gelangen labile Personen zu leicht an Schusswaffen?
Dienstag, 10. Juni, 10 Uhr. Der erste Notruf bei der Polizei geht ein – eine vage Meldung über einen möglichen Amoklauf. Sechs Minuten später sind die ersten Einsatzkräfte bei der Schule, die Schnellinterventionseinheit stürmt um 10.08 Uhr das Schulgebäude. Da hat der Täter bereits auf Dutzende Menschen geschossen.
Auf den ersten Blick wirkte er wohl wie jeder andere Schüler: ein Rucksack auf dem Rücken, der alltägliche Gang durch die Flure des Gymnasiums. Doch statt Bücher und Hefte trägt er Waffen und Munition bei sich. Der 21-jährige A., ehemaliger Schüler der Schule, ist mit einer Bockdoppelflinte und einer Glock-19-Pistole bewaffnet. In seinem Rucksack befindet sich weitere Ausrüstung für eine Tat, die er minutiös geplant hat. Minuten später eröffnet er das Feuer.
Die meisten Schüsse fallen im dritten und zweiten Stockwerk des Schulgebäudes, dort, wo gerade Schülerinnen und Schüler der fünften und siebten Klassen Unterricht haben. „Zuerst dachten wir, jemand tritt laut gegen die Spinde“, sagt eine Schülerin. „Erst später haben wir verstanden, dass es Schüsse waren.“ Etwa 40 Mal soll A. abgedrückt haben. Zehn Personen sterben: sechs Mädchen, drei Burschen – alle zwischen 15 und 17 Jahre alt – sowie eine 59-jährige Lehrerin für Deutsch und Englisch. Sie kannte A. aus dem Unterricht, ob weitere Anknüpfungspunkte bestehen, ist Gegenstand von Ermittlungen.
Um 10.07 Uhr schießt sich A. in den Kopf. Cobra-Beamte finden ihn tot in einem Schul-WC.
Um 10.17 Uhr beginnt die Evakuierung. Die Schülerinnen und Schüler werden zu einem Sammelplatz bei der Helmut-List-Halle gebracht, 200 Meter von der Schule entfernt. Von dort werden sie nach und nach zur nahe gelegenen ASKÖ-Sporthalle eskortiert.
Dienstag, 10. Juni, 16.30 Uhr. Vor der ASKÖ-Halle kehrt nun Ruhe ein. Die letzten Angehörigen, die vom Kriseninterventionsteam Steiermark (KIT) betreut wurden, verlassen das Gelände in Richtung ihres Autos. Schluchzend, sich gegenseitig stützend. Auf ein Elternpaar folgen die letzten Schülerinnen. Sie brechen immer wieder in Weinkrämpfe aus. Man will sich nicht ausmalen, warum sie so lange in Betreuung waren.
Der Leiter des KIT, Edwin Benko, findet nun die Ruhe für Interviews. Er leitete den Einsatz, als ein Amokfahrer in der Grazer Innenstadt drei Menschen tötete und 36 verletzte. Eine Tat, die sich fast exakt vor zehn Jahren ereignete, am 20. Juni 2015. Ein Täter, der im selben Grazer Vorort wohnte wie der Amokläufer der Dreierschützengasse. Benko half auch beim Tsunami 2004 in Thailand. Doch was an diesem 10. Juni in seiner Heimatstadt Graz passierte, übersteigt emotional alles, was er in 25 Berufsjahren erlebt hat.
Was der Experte empfiehlt, klingt im ersten Moment irritierend: „Schnell wieder in den Schulbetrieb übergehen, in besonderer Form.“ Es sei wichtig, Begegnungen zu ermöglichen, eine vertraute Umgebung herzustellen, zusammen zu sein. Er spricht Angehörigen, Freunden, Bekannten Mut zu, den Betroffenen nicht auszuweichen, sondern direkt „in die Begegnung“ zu gehen. Und wenn die Worte fehlen, einfach anzubieten, den nächsten Einkauf zu erledigen.
Diese ersten Begegnungen werden nicht in der Schule passieren – sie ist am Mittwoch gesperrt –, sondern in der Helmut-List-Halle gegenüber der Schule, dort, wo am Vortag das Evakuierungszentrum war und nun sozialpsychologische Hilfskräfte bereitstehen.
Um die Jugendlichen am Ende des Schuljahres aufzufangen, sind auch die Lehrkräfte der Dreierschützengasse gefragt – die selbst teils traumatisiert sind und Hilfe benötigen. Sie werden noch am frühen Abend des Attentats für 18 Uhr zusammengerufen, um ihnen ein Forum zu bieten. In der HTL Bulme in Graz-Gösting, fünf Autominuten entfernt. Der Direktor der HTL hat auf Bitte seiner Kollegin aus der Dreierschützengasse einen Konferenzsaal bereitgestellt. Hier soll der Tag kollektiv aufgearbeitet und – so schwer das auch vorstellbar ist – die Zeit nach der Schulsperre vorbereitet werden.
Dienstag, 10. Juni, 17.30 Uhr. Noch ist es ruhig beim vereinbarten Treffpunkt. Dann taucht ein Mann auf. Ein bäriger, grundsympathischer, tätowierter Typ in kurzen Hosen und Turnschuhen. Es ist der Schulwart der Dreierschützengasse, der das Treffen mitbetreut.
Er hat den Amoklauf von Anfang bis zum Ende miterlebt und eine „besondere Rolle“ gespielt, wie uns eine Frau im Vorbeigehen andeutet, bevor sie in Richtung Konferenzraum verschwindet. „Er riss die Türen der Klassenzimmer auf, schrie: ,Raus, Raus!‘ und brachte die Jugendlichen so schnell es ging in den Schulhof“, wird die „Kronen-Zeitung“ später über den Schulwart schreiben.
Hier steht er nun, bald acht Stunden nach den ersten Schüssen. In seinen Augen ein Tränenfilm. Selbst mit seiner Frau habe er noch nicht über alles reden können. Zu den profil-Reportern sagt er nur: „Warum ist das aus den USA zu uns gekommen?“ Diesen Satz über den „Horror aus Amerika“ hören wir oft an diesem Tag, von Grazern, die Amokläufe in Schulen nur mit den USA assoziierten. Jetzt reiht sich ihre Stadt international unter die Fälle mit den meisten Todesopfern.
Dann tritt die Direktorin der Dreierschützengasse ein, gemeinsam mit der steirischen Bildungsdirektorin Elisabeth Meixner. Es folgen die ersten Lehrerinnen und Lehrer. Manche suchen das Gespräch untereinander. Andere warten im Abseits.
„Alle waren zutiefst betroffen“, sagt Meixner nach dem Treffen zu profil. Manche seien mittendrin gewesen, andere haben erst beim Treffen erfahren, was genau passiert ist. Einige seien mit Erlaubnis der Polizei ins abgesperrte Schulgelände zurückgekehrt, um die eigenen Hausschlüssel zu holen.
Auch an diesem Abend wird die Losung ausgegeben: Begegnungen für Schüler und Eltern schaffen. Und den Lehrkräften der Maturaklassen bleibt die Frage nicht erspart: Wie weiter? Durchführen? Absagen? Das Attentat passiert mitten in der Reifeprüfung. Es wird vereinbart, dass die Klassenvorstände die Schülerinnen und Schüler in Einzelgesprächen fragen, wer sich in der Lage fühlt, die Prüfung in den kommenden Tagen und Wochen abzulegen.
Dienstag, 10. Juni, 19 Uhr. In der Wohnsiedlung, in einem Vorort südlich von Graz, mit vielen Balkonen, auf denen Storchfiguren neugeborene Babys ankündigen, kannte man A. als „unauffällig“. Die Siedlung ist ein Ort für Familien, ein Ort mit Gärten, mit Nachbarinnen, die einander beim Blumengießen über den Zaun hinweg grüßen. Als profil an diesem Frühabend dort eintrifft, ist es still in der Siedlung. Der Polizeieinsatz liegt Stunden zurück. Daran erinnert nur ein kleines Loch in der Tür zur Erdgeschosswohnung – vielleicht vom Einsatz einer Kamerasonde. Drinnen fand die Polizei einen handschriftlichen Anschlagsplan auf die Schule – gezeichnet, minutiös vorbereitet. Und eine Rohrbombe, „die allerdings nicht funktionsfähig war“, wird Michael Lohnegger, Leiter des Landeskriminalamts (LKA) Steiermark, später bei einer Pressekonferenz mitteilen.
In dieser Wohnung lebte der 21-Jährige seit über fünf Jahren mit seiner Mutter. A. besuchte im BORG Dreierschützengasse die fünfte und sechste Klasse, blieb sitzen, fiel aber im Schulbetrieb nicht unangenehm auf. Danach wechselte er auf die Landesberufsschule Feldbach.
Die Nachbarinnen beschreiben ihn als still, verschlossen. „Er trug seine großen Kopfhörer und einen Rucksack, wenn er aus und ein ging. Er grüßte nicht, war aber nie irgendwie ungut“, sagt eine Nachbarin. Der Redebedarf ist groß. Eine andere, ältere Nachbarin öffnet ihre Wohnungstür und will etwas mitteilen: „Ich bete nicht nur für die Angehörigen der Opfer, sondern auch für die Mutter.“ Die Frau sei freundlich gewesen, man habe sich manchmal ausgetauscht, über die Pflanzen im Garten, über das Wetter. Niemals habe man ein lautes Wort aus der Wohnung gehört.
Die Geschichte des Täters, so viel ist bislang bekannt, ist keine von äußerer Verwahrlosung oder eskalierendem Lärm. Nichts deutet darauf hin. Es ist eine Geschichte der Stille. Ein Nachbar erfährt später, dass er beim Amoklauf ein Familienmitglied verloren hat. Sie war Schülerin am Gymnasium Dreierschützengasse.
Mittwoch, 11. Juni. Ab 8 Uhr treffen vor der List-Halle die ersten Schüler und Lehrer ein, um kollektiv zu trauern. Die Schule selbst bleibt zu. An einen Schulbetrieb in jenem Gebäude, in dem der Amokläufer auf zwei Etagen das Blutbad anrichtete, soll am Tag danach noch niemand denken müssen.
Mittwoch, 11. Juni, 8.40 Uhr. Rückruf bei einem Mann, der sich über Social Media beim profil-Reporter gemeldet hat. Mit den Zeilen: „Rufen Sie mich an, ich habe mit A. schießen trainiert.“ Der pensionierte Manager Walter P. (Name geändert) wird detailliert erzählen, wie A. schießen lernte, wie seltsam er schon damals auf P. wirkte und wie sehr es ihn wunderte, dass A. danach eine Waffenbesitzkarte erhielt.
Zu Hause bewegte sich der Attentäter vor allem im virtuellen Raum, besonders in Ego-Shooter-Gamingkreisen, geben Ermittler bekannt. Im echten Leben bereitete er sich in einem traditionellen Grazer Schützenverein vor. Die Schussanlage liegt auf halbem Weg zwischen dem Wohnort des Attentäters und dem Tatort. Walter P. trainiert seit drei Jahren im Verein, um geistig fit und reaktionsstark zu bleiben, wie er sagt. An den späteren Attentäter A. kann er sich nur zu gut erinnern: „Ich war der Letzte, der mit ihm dort geschossen hat.“
Als ihn am Tag des Attentats die Horrornachricht aus Graz erreicht – er weilt in Kroatien auf Urlaub –, denkt er sofort an A., weil dieser ihm von Anfang an höchst suspekt war. Der 21-jährige spätere Attentäter A. taucht vor drei Monaten das erste Mal im Verein auf. „Ich habe in meinem Job viel mit Jugendlichen zu tun gehabt, aber einen empathieloseren Menschen habe ich mein Leben lang noch nicht erlebt. Er war wie von einem anderen Stern“, erinnert sich P. an die ersten Begegnungen mit dem 21-Jährigen. Ein „Zniachtl“ sei er gewesen, also sehr schmächtig. „Die Wangen eingefallen, runde Brille, Rucksack, die Haare schulterlang.“
„Ich konnte mir nicht vorstellen, wie er das psychologische Gutachten besteht“
Im Schützenverein dürfen sich Neulinge legal an der Waffe versuchen. Unter Aufsicht. Waffen und Munition bleiben im Verein. Die Schnupperkarte kostet zehn Euro. Für einen Waffenschein müssen Anwärter belegen, dass sie im Umgang mit der Waffe geschult sind. P. geht davon aus, dass dem jungen Mann die erste Stufe reicht. Luftdruck. Doch er will alle Etappen durchlaufen.
Mehrmals pro Woche sei er gekommen. „Einmal hat er gefragt, ob er mit einer Schrotflinte schießen darf. Er habe eine daheim.“ A. hat das Gewehr Anfang April bei einem Waffenhändler in Graz legal erworben. Doch Schrotflinten sind im Verein nicht erlaubt. Also schießt der junge Mann mit einer Glock- und einer Ruger-Pistole.
Nach seinem Training sei er „apathisch in einer Ecke gesessen“, erinnert sich Walter P. Er habe versucht, ihn aufzumuntern: „Ich habe ihn für gute Treffer gelobt, ihm gesagt, er solle die Zielscheiben doch mitnehmen.“ Vergeblich. Die Zielscheiben ließ er im Verein zurück. P. will von A. wissen, was er sonst so mache. Der Bursche nennt den Namen einer Computerfirma. Doch auf deren Chef angesprochen, den P. kennt, reagierte der junge Mann nicht. Weil er über ein AMS-Arbeitslosenprogramm dort war, wie P. vermutet.
An einen Tag, es muss der Freitag vor drei Wochen gewesen sein, erinnert sich der Pensionist besonders: „Es war der Geburtstag eines Fachwartes. Der Bursch war da, saß wieder nur in der Ecke und fragte dann: ‚Schießen wir heute nicht?‘“ Walter P. will den jungen Mann auf seine Kompetenzen prüfen. „Wir schossen auf fixe Ziele. In sieben Metern Entfernung.“ Nach 15 Schüssen bekommt P. ein mulmiges Gefühl. „Ich hatte Angst, jetzt dreht er sich um und schießt mir in den Bauch. Ich brach ab. Ich war der Letzte, der mit ihm im Verein geschossen hat.“ Zu seinen Kollegen habe er noch gesagt: „Ich kann mir nicht vorstellen, wie der das psychologische Gutachten besteht.“ Von der verantwortlichen Stelle war keine Auskunft zu bekommen.
Der Schützenverein wurde aus Pietätsgründen geschlossen
A. nimmt alle Hürden, um legal an eine Waffe zu bekommen. Er ist unbescholten. Hat gelernt, wie man mit der Waffe umgeht, was ihm vom Verein mit einem Waffenführerschein attestiert wird. Besteht dann auch noch den Psycho-Test. Mitte Mai bekommt er eingeschrieben eine Waffenbesitzkarte. Für alles zusammen zahlt er nur ein paar Hundert Euro. Ende Mai kauft er sich eine Glock 19.
P. ist wie alle Mitglieder des Schützenvereins tief schockiert. „In den Jahrzehnten seit Gründung des international erfolgreichen Vereins ist nie etwas passiert. Alle passen aufeinander auf.“ Dennoch ist er heute überzeugt: Es braucht zusätzlich zum psychologischen Gutachten ein Frühwarnsystem bei Schützenvereinen und Waffenhändlern. Damit diese offiziell einmelden können, wenn Personen sich psychisch auffällig verhalten haben. Der Zugang zum Waffenführerschein sollte generell erschwert werden, durch einen mehrstufigen Lehrgang.
Der Sektionsleiter des Schützenvereins bestätigt, dass der 21-jährige A. dort aktiv war. Er habe regelmäßig ruhig, unauffällig und allein trainiert. „Er war zum Schießen da, sehr ruhig, hat nicht viel gesprochen“, sagt er. Etwa Mindestens einmal pro Woche sei der junge Mann gekommen, um mit einer Pistole auf eine Zielscheibe in 17 Metern Entfernung zu schießen. Gewehre seien auf der Anlage nicht zugelassen, betont der Sektionsleiter. Geschossen werde ausschließlich mit Fünfschuss-Magazinen. Der Schütze habe erklärt, er wolle eine Waffenbesitzkarte beantragen. „Er hat sich wirklich gut benommen.“
Nach der Tat wurde der Schießstand aus Pietätsgründen geschlossen, heißt es. „So etwas trifft jeden. Wir sind alle geschockt“, sagt der Vereinsverantwortliche. Das Standbuch, in dem sich alle Schützen eintragen müssen, liegt aktuell der Polizei vor. Dort müsste auch die Waffengeschichte des Täters festgehalten sein.
Der Bundespräsident stellt die Waffengesetze auf den Prüfstand
Die politische Aufarbeitung der Tat beginnt bereits am Tag des Amoklaufs. Grüne und KPÖ fordern ein generelles Waffenverbot für Privatpersonen. Ein solches würde dem aktuellen Trend stark entgegenstehen: Seit 2015 ist die Zahl der registrierten Waffen hierzulande um 70 Prozent gestiegen. Mittlerweile gibt es mehr als 1,5 Millionen registrierte Waffen in Österreich – und mehr als 370.000 Waffenbesitzer. 2015 besaßen nur rund 250.000 Menschen in Österreich legal eine Schusswaffe.
Bundespräsident Alexander Van der Bellen erklärte in Graz, die Politik werde sich „anschauen, wie es sein kann, dass ein 21-Jähriger Kurz- und Langwaffe besitzt und die Möglichkeit hat, entsprechende Munition zu kaufen und dieses Unheil anzurichten“. Am Donnerstagnachmittag befasste sich auch der Nationale Sicherheitsrat mit der Frage. Die FPÖ spricht sich gegen eine Verschärfung des bestehenden Waffengesetzes aus.
Das österreichische Waffengesetz unterscheidet drei Kategorien: zum einen verbotene Waffen (Kategorie A) wie Pumpguns und Flinten (Schrotgewehre) mit einer Gesamtlänge von weniger als 90 Zentimeter. Der Erwerb, Besitz und das Führen solcher Waffen ist generell verboten und kann nur auf Antrag bei den Behörden genehmigt werden.
Waffen der Kategorie B sind Pistolen und Revolver, halbautomatische Selbstladeflinten und Repetierflinten. Für den Erwerb und den Besitz ist ein Waffenpass oder eine Waffenbesitzkarte erforderlich. Ein Waffenpass erlaubt das Mit-sich-Führen einer Waffe. Der Waffenpass-Werber muss dazu nachweisen, dass er außerhalb seines Eigenheims besonderen Gefahren ausgesetzt ist, die er nur mit einer Waffe abwehren kann. Die Waffenbesitzkarte erlaubt es, eine Waffe zu Hause aufzubewahren.
Revolver und Pistolen nur noch mit behördlicher Sondergenehmigung?
Voraussetzung für einen Waffenpass oder eine Waffenbesitzkarte ist die Vollendung des 21. Lebensjahres sowie – wie es im Waffengesetz heißt – „Verlässlichkeit“. Zu deren Nachweis muss die Bescheinigung über einen psychologischen Test vorgelegt werden, der 283 Euro kostet. Die Gebühr wurde seit 20 Jahren nicht an die Inflation angepasst.
Waffen der Kategorie C können bereits von 18-Jährigen ohne Waffenpass oder Waffenbesitzkarte erworben werden und müssen bloß binnen sechs Wochen im Zentralen Waffenregister gemeldet werden. Für den Besitz oder den Erwerb einer solchen Waffe reicht eine einfache Begründung, etwa die Waffe zur Selbstverteidigung, zur Ausübung des Schießsports, zu Jagdzwecken oder für eine Sammlung zu verwenden.
Denkbar wäre es, die Altersgrenze für den Erwerb von Waffen generell auf 23 oder gar 25 Jahre zu erhöhen. Eine weitere Verschärfung bestünde darin, dass auch Revolver und Pistolen in Zukunft in die Kategorie A fallen und damit nur mit einer behördlichen Sondergenehmigung erworben werden können.
Die Verlässlichkeitsprüfung über den psychologischen Test könnte nicht nur ein Mal, sondern alle fünf Jahre erfolgen – und generell neu aufgesetzt werden. Die Psychologen, die ihn derzeit abnehmen, haben keinen Zugriff auf Krankendaten oder sonstige Informationen der Antragsteller. Das Bundesheer durfte im Fall des Grazer Amokläufers die Information nicht weitergeben, dass dieser aus psychischen Gründen als untauglich für den Wehrdienst eingestuft wurde.
„Gut vorbereitet kann man Gutachter vorsätzlich täuschen“
Im Zuge des psychologischen Tests führt der Gutachter mit dem Werber um eine Waffenbesitzkarte ein 45- bis 90-Minuten-Gespräch, wobei er dessen Verhalten beobachtet. Dazu muss ein Persönlichkeitsfragebogen am Laptop ausgefüllt werden. Ob der Werber an psychischen Störungen, Alkoholabhängigkeit oder Tablettensucht leidet, kann auch ein erfahrener Gutachter nur bedingt erfragen, wenn der Werber keine gewissenhafte Auskunft gibt.
„Wenn sich jemand gut auf den Test vorbereitet, kann es ihm gelingen, den Gutachter vorsätzlich zu täuschen“, sagt Roland Bugram, der etwa zwei Drittel aller psychologischen Gutachten
für den Erwerb einer Waffenbesitzkarte in der Steiermark erstellt, den Amokläufer von Graz allerdings nicht begutachtete. Fällt ein Bewerber durch, kann er ein zweites Mal zur Begutachtung antreten. Am Ende schaffen nur etwa zehn Prozent der Kandidaten die Überprüfung der Verlässlichkeit nicht.
A. bestand den Test. Er bekam die Waffenbesitzkarte, hatte eine Schrotflinte, eine Pistole. Er galt als verlässlich – auf dem Papier.

Daniela Breščaković
ist seit April 2024 Innenpolitik-Redakteurin bei profil. War davor bei der „Kleinen Zeitung“.

Clemens Neuhold
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.