Das Demokratie-Dilemma der Ukraine
Zum ersten Mal seit Kriegsbeginn kam es in der Ukraine wieder zu Protesten. Nicht gegen den russischen Machthaber Wladimir Putin, der das Land im Februar 2022 überfallen hat, sondern gegen die Regierung in Kiew, die sich ihm entgegenstellt. Der Grund für die Proteste: Die Regierung hatte ein Gesetz auf den Weg gebracht, das die Anti-Korruptionsbehörden aushöhlt beziehungsweise ihre Unabhängigkeit gefährdet. Präsident Wolodymyr Selenskyj ist mittlerweile aufgrund des Drucks zurückgerudert. Aber der Reihe nach.
Man könnte meinen, dass der Kampf gegen Korruption in einem Land im Kriegszustand keine große Rolle spielt. Russische Drohnen greifen die Ukraine Tag und Nacht an. Neun Millionen Menschen sind auf der Flucht. Wen kümmert schon Korruption, wenn man um seinen Sohn oder Ehemann an der Front bangt?
In der Ukraine offenbar sehr viele – und das hat einen Grund.
Der Kampf gegen Korruption war auch eine Errungenschaft der Maidan Revolution von 2013
Dass man die Korruption zurückgedrängt hatte, war eine Errungenschaft der Maidan-Revolution im Jahr 2013. Der damalige Präsident Wiktor Janukowitsch war (neben seiner Russland-Nähe) wohl auch deswegen gegen eine Annäherung an die EU, weil im Zuge der Reformprozesse seine eigenen Korruptionsskandale aufgearbeitet worden wären. Am Ende floh Janukowytsch nach Russland und in der Ukraine wurden drei Grundpfeiler für eine unabhängige Justiz geschaffen: Das Anti-Korruptionsbüro „NABU“, die Sonderstaatsanwaltschaft „SAPO“ und ein Anti-Korruptionsgericht. Vergangene Woche stand die Unabhängigkeit dieser Behörden auf der Kippe. Ein umstrittenes Gesetz sah vor, sowohl NABU als auch SAPO dem Generalstaatsanwalt unterstellen. Dieser wiederum wird vom Präsidenten ernannt. Nachdem es Kritik aus der EU hagelte und Proteste ausbrachen, ist Selenskyj zurückgerudert und hat das Gesetz wieder gekippt. Ist jetzt also alles gut? Nicht ganz. Denn mit dem Hin und Her hat er viel Vertrauen verspielt. Insbesondere in der EU, mit der die Ukraine Beitrittsgespräche führt.
Die EU muss zeigen, dass die Ukraine den Kandidatenstatus nicht nur bekommen hat, weil Putin gegen das Land Krieg führt.
Die Verhandlungen haben zwar formell begonnen, aber der ungarische Regierungschef Viktor Orbán blockiert (aus innenpolitischen Gründen) die Eröffnung des ersten Verhandlungspakets. Ein Vorankommen dürfte jetzt noch schwieriger werden. Denn in diesem ersten Cluster geht es schwerpunktmäßig um Korruptionsbekämpfung.
Jetzt ist ausgerechnet Orbán, der seit Jahren EU-Recht bricht, im Recht. Nach dem Hickhack rund um das Korruptionsgesetz dürfte das Vertrauen nicht gestiegen sein. Wer der EU beitreten will, muss die sogenannten Kopenhagener Kriterien erfüllen, also institutionelle Reformen, deren Herzstück die Rechtsstaatlichkeit ist.
Die EU muss zeigen, dass die Ukraine den Kandidatenstatus nicht nur bekommen hat, weil Putin gegen das Land Krieg führt.
Gegenüber den Kandidaten auf dem Balkan, die seit 2003 warten, wären Doppelstandards mehr als unfair.
Die Ukraine wurde bereits vier Monate nach Kriegsbeginn EU-Beitrittskandidat. Das war auch ein Signal an Putin und somit eine geopolitische Entscheidung. Gegenüber den Kandidaten auf dem Balkan, die seit 2003 warten, ist das mehr als unfair. Nordmazedonien hat zum Beispiel einen jahrzehntelangen Streit mit Griechenland beigelegt und seinen Namen geändert, um Teil der EU zu werden. Gebracht hat das nichts. Länder wie Montenegro oder Albanien setzten in den letzten Jahren Justizreformen um, die zum Teil hochrangige Politiker hinter Gitter brachten. Die Ukraine baut solche Behörden jetzt über Nacht ab.
Muss man hier nachsichtig sein, weil Putins Krieg uns alle bedroht? Nein. Es darf diesbezüglich keine Doppelstandards geben. Die EU-Erweiterung muss endlich wieder ein leistungsorientierter Prozess werden. Auf dem Balkan ist genau das nicht passiert. Vielleicht, weil die akute Dringlichkeit fehlt? Der Westbalkan (Serbien, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien, Albanien, Bosnien-Herzegowina) ist von EU- und NATO-Staaten umschlossen. Hier droht kein Überfall Russlands, sondern ein Wiederaufflammen ethnischer Konflikte aus den Neunzigern.
Die EU-Mitgliedsländer müssen der Ukraine militärisch weiter beistehen. Denn der Ausgang dieses Krieges ist eng mit Europas Zukunft verknüpft. Gleichzeitig muss die EU-Kommission mehr denn je die Kopenhagener Kriterien hochhalten. Man wird nicht Mitglied der EU, weil man gegen Putin ist, sondern weil man ein Land mit Gewaltenteilung aufbaut. Mit der Aushöhlung der Justiz tut Selenskyj jetzt leider genau das Gegenteil davon.
Anmerkung: Redaktionsschluss für diesen Kommentar war Donnerstag der 24. Juli. Nachdem das Gesetz am 25. Juli gekippt wurde, haben wir den Text für die Online-Version leicht überarbeitet und angepasst.