Leitartikel

Die Werte-Auferstehung Europas

Große werteprägende Institutionen wie Kirche oder Politik verlieren an Bedeutung, Werte-Echokammern trennen angeblich die Gesellschaft. Trotzdem funktioniert es gar nicht so schlecht.

Drucken

Schriftgröße

„Ohne Glaube, Liebe, Hoffnung gibt es logischerweise kein Leben. Das resultiert alles voneinander“, schrieb Ödön von Horváth in seinem berühmten Drama „Glaube Liebe Hoffnung. Ein kleiner Totentanz.“ im Jahr 1932. Jahrtausende davor schrieb Apostel Paulus in seinem Korintherbrief: „Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, doch am größten unter ihnen ist die Liebe.“ In der Theologie werden Glaube, Liebe, Hoffnung als Geschenk und Auftrag Gottes gleichzeitig verstanden. Und wie das mit  Geschenken, die man sich gar nicht gewünscht hat, eben ist: Manchmal mag man sie gar nicht besonders. Zumindest könnte dieser Eindruck entstehen, wenn man aktuelle Wertestudien liest, in denen diese Begriffe keine zentrale Rolle mehr spielen. Ja, kaum noch genannt werden. Erleidet unser symbolisches Kapital Wertverlust?

Tatsächlich verlieren die großen, werteprägenden Institutionen in modernen, europäischen Gesellschaften zunehmend an Bedeutung. Im Namen der Religion werden zwar weltweit nach wie vor schier unglaubliche Dinge vollbracht und auch verbrochen – von Armenausspeisungen bis Krieg; in den christlich geprägten Ländern Europas kämpft die Kirche aber mit massivem Kundenschwund. Dieses Leid teilen sich die Geistlichen mit Politikern: Die überhandnehmende Politikverdrossenheit ist Ausdruck davon, dass die Werteleitlinien der politischen Gesinnungsgemeinschaften offenbar unattraktiv geworden sind. Das könnte – würde man sich als Politiker in Selbstreflexion üben wollen – unter Umständen damit zu tun haben, dass die meisten Parteien ihr Wertekorsett je nach Umfragenlage gemütlich auf- oder ordentlich zuschnüren. Das Wort „Werte“ hat im österreichischen, politischen Kontext in den vergangenen Jahre dazu einen negativen, bestrafenden Beigeschmack bekommen. Es ging meist darum, Menschen aus anderen Kulturen „unsere“ Werte durch Zwang aufzudrücken. Stichwort: Wertekurse.

Aber genau dieser Zugang ist falsch: Missionierung, Unterdrückung und Werteverkündung funktionieren nicht mehr. Es geht heute viel mehr um eine Transformation von Fremd- zu Selbstbestimmung. Das kann nur durch Diskurse und Auseinandersetzung erreicht werden. Die Debatten finden auch nicht mehr im großen Makrokosmos namens Politik oder Kirche statt, sondern in Mikrokosmen wie Familie, Freundeskreis, Vereinen oder auf Social-Media-Plattformen. Da wird Veganismus zur Religion erklärt. Menschen, die nie Freunde hatten, finden plötzlich welche. Es wird leidenschaftlich über Klimawandel und Wokeness gestritten – unter dem Deckmantel der Anonymität hat das auch hässliche Begleiterscheinungen wie Narzissmus, Hass und Schamlosigkeit. Unterm Strich lässt sich ablesen: Es gibt nicht mehr wenige große Wertegemeinschaften, sondern viele kleine. Das wird negativ interpretiert auch gern als „Spaltung der Gesellschaft“ subsumiert, die für die Politik wiederum ein Wert an sich geworden ist, mit dem Wählerstimmen generiert werden können.

Klingt, als wären wir ziemlich kaputt, als ob es nur noch wenige gemeinsame Nenner gäbe. Als ob jeder einfach sein Ding macht, es sich in seiner selbstgezimmerten Welt gemütlich macht und sich dabei laufend über die Nachbarn beschwert. Herrscht Werte-Anarchie? Mag sein, aber es gibt auch gute Nachrichten. Wer die Summe dieser Mikrokosmen als großes Ganzes betrachtet, sieht: Irgendwie funktioniert es trotzdem – oft sogar ganz gut.

Europa hat gerade gemeinschaftlich eine Pandemie gemeistert – eine Situation, die sich vorher so niemand hätte vorstellen können. Wo man Angst hatte, sich bei einem Spaziergang eine tödliche Krankheit einzufangen. Wo der Staat den Menschen vorgeschrieben hat, wann man wo wen sehen darf. Und der allergrößte Teil der Leute hielt sich daran. Der Begriff „Solidarität“ stand plötzlich hoch im Kurs.

Kaum war die Pandemie einigermaßen im Griff, beginnt in Europa ein Krieg, von dem sich keiner vorstellen konnte, dass er so im 21. Jahrhundert noch geführt werden würde: Panzer rollten ins Nachbarland, Bodentruppen marschierten ein. Städte werden durch Bomben dem Erdboden gleichgemacht. Die Menschen flüchteten zu Millionen Hals über Kopf aus der Ukraine, um in den europäischen Nachbarländern Unterschlupf zu finden. Dazu kommt: Weltweit machen sich ganze Völker auf die Wanderung, um neues Glück zu finden, viele davon wähnen es in Europa.

Die westliche Wertegemeinschaft stöhnt zwar unter dieser Last, aber noch erweist sie sich als durchaus widerstandsfähig. Wir sind gar nicht mal so schlecht! In diesem Sinne: Auch, wenn wir nicht mehr so fromm sind, wir haben uns den Schokohasen verdient!

 

Anna  Thalhammer

Anna Thalhammer

ist seit März 2023 Chefredakteurin des profil. Davor war sie Chefreporterin bei der Tageszeitung „Die Presse“.