Der Fall Anna

Kann es sein, dass einem Mädchen, das sich für „so was“ hergegeben hat, kein Schutz zugebilligt wird?

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Da ist dieses Mädchen, zwölfjährig. Sie darf nicht wählen, eh klar. Sie dürfte keinen Führerschein machen, auch klar. Sie ist nicht geschäftsfähig, no na. Sie sollte noch mindestens drei Jahre in die Schule gehen und dort was lernen, weil man zu Recht davon ausgeht, dass ihre Kenntnisse und Fähigkeiten beschränkt sind. Eines allerdings traut man ihr zu: dass sie weiß, was sie tut, wenn sie sich begrapschen, befummeln und zu Sex herumkriegen lässt.

Die Burschen, die sich an ihr bedienten, haben nicht wissen können, dass sie nicht so alt ist, wie sie behauptet, nämlich über 14. Die Burschen sind ja selber noch unreif, die denken nicht nach über Verantwortung, sondern haben nur ein Bedürfnis, das der Triebbefriedigung. Na klar haben sie nicht vorsätzlich eine Zwölfjährige begrapscht, befummelt und sexuell benützt, im Wissen, dass sie eben erst zwölf ist. Es war ihnen wurscht. Sie war ein Körper mit Körperöffnungen, an denen sie ihr Bedürfnis stillen konnten.

Strafrechtlich war das in Ordnung. Strafrechtlich konnte man nix machen.

Die Zwölfjährige hat immer wieder nachgegeben, das gilt als Einwilligung, auch wenn sie dann später vor der Mama geheult und geflennt hat, woraus die Mama geschlossen hat, dass es doch nicht so einvernehmlich war.

Was heißt denn überhaupt einvernehmlich? Dass es beiden Freude macht oder dass eine ihre Körperöffnungen freigibt in der – diesfalls leider vergeblichen – Hoffnung auf Zuneigung?

Hoffen kann man viel, aber Zuneigung lässt sich nicht einklagen. Das wäre ja noch schöner, wenn Sex strafbar wäre, auf den eine vielleicht einseitig erhoffte Zuneigung nicht folgt. Da gäbe es viel zu strafen.

So ist es explizit nicht gesagt worden, aber so kam das Urteil im Fall Anna – der zum Zeitpunkt der Vorkommnisse Zwölfjährigen, die von zehn Burschen zwischen 14 und 16 über einen längeren Zeitraum sexuell benützt wurde wie ein Gebrauchsgegenstand – in der Öffentlichkeit an. Und der Eindruck ist nicht falsch. Anna hat zweimal draufgezahlt. Einmal, als sie sich mit der Burschengang eingelassen hat und statt Zuwendung oder Anerkennung Verachtung und Missbrauch bekam. Und dann vor Gericht, als ihr allein die Verantwortung für alles, was geschehen ist, umgehängt wurde. Denn das bedeutet der Freispruch für die Burschen. Sie haben es nicht wissen können. Anna hingegen hätte es besser wissen müssen.

Anna, könnte man sagen, ist vor Gericht im Stich gelassen worden. Weil die Rechtslage es nicht anders erlaubt hat.

Warum haben Sexpartner von sehr jungen Menschen keine Verpflichtung, deren Alter abzuklären? Hat keiner der Angeklagten eine Ahnung gehabt, in welche Schulklasse sein Opfer geht?

Wenn das so ist, dann muss über die Rechtslage diskutiert werden. Ja, über vieles andere auch – Frauenbilder, Sozialisierung, Prävention –, aber eben auch über die Rechtslage, die aufgrund von nur dem Gericht bekannten Fakten zu dem Schluss gekommen ist, dass die Burschen keine Schuld trifft.

Was könnten das für Fakten sein? Es fällt einem nichts ein, das moralisch rechtfertigen würde, dass sich zehn Burschen ungestraft an einer Minderjährigen bedienen dürfen. Formaljuristisch schaut es offenbar anders aus, aber warum? Wer Jugendlichen Alkohol verkauft, muss einen Ausweis verlangen, doch wer eine Jugendliche sexuell missbraucht, darf sich auf ihre Altersangabe verlassen? Das ist doch einigermaßen fragwürdig. Warum haben Sexpartner von sehr jungen Menschen keine Verpflichtung, deren Alter abzuklären? Hat keiner der Angeklagten eine Ahnung gehabt, in welche Schulklasse sein Opfer geht?

Fast könnte man meinen, dass auch hinter Gesetzeslage und Rechtsprechung Moralvorstellungen lauern, denen zufolge Mädchen nur noch eingeschränkt schutzbedürftig sind, wenn sie sich für „so was“ hergegeben haben.

Nicht verhindert hätte die Gesetzeslage jedenfalls, dass der Richter ermahnende Worte an die Angeklagten und ihre Eltern richtet. Dass er das unterließ, hat schon profil-Kollege Clemens Neuhold kritisch angemerkt. Nun ist zu befürchten, dass das Urteil einen Freibriefcharakter bekommt, der zahlreiche junge Männer in ihrer massiven Frauenverachtung bestärken wird.