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Wenn einmal das Internet länger ausfallen sollte, sind wir alle geliefert, heißt es immer. Wenn es hingegen nicht ausfällt – dann erst recht.

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Es kann ja wohl kein Zweifel daran bestehen, dass das Internet die Menschheit weit gebracht hat. Keiner hätte vor 30 Jahren geahnt, wie weit. Selbst wenn man nicht die Gnade der späten Geburt hat und also ein Analogue Native ist, mag man sich kaum mehr vorstellen, wie ungeheuer grau und beschwerlich das Leben vor dem Internet war. Man sah damals zum Beispiel meistens nur einmal im Monat auf dem Kontoauszug, dass man nichts sah – und nicht jederzeit. Man konnte nie Katzenvideos schauen. Nie! Außer vielleicht ab und zu bei Prof. Bernhard Grzimek auf FS1. Man lernte auch nie litauische Fernfahrer kennen, denen das Navi geraten hatte, auf dem Weg nach Spanien mit ihrem 16-Tonner einen Abschneider über eine Skipiste in Vorderstoder zu nehmen. Man konnte nichts in China bestellen, außer man fuhr hin. Und das schlug sich dann doch auf den Preis der Kunststoffkunst nieder.

Besonders rasant entwickelte sich die Menschheit aber dann natürlich mit der zusätzlichen Erfindung von Social Media weiter. Das Internet wurde zum großen Verbinder, mit einem Mal war es nicht nur ein Leichtes, von alten Schulkollegen aufgespürt zu werden, von denen man nie wieder zu hören gehofft hatte, sondern überhaupt, soziale Kontakte zu knüpfen, die man nie haben hätte sollen. Vor allem natürlich die heutzutage wichtigsten – also anonyme. Das Knüpfen anonymer sozialer Kontakte ging früher eigentlich nur im Darkroom und da auch nicht immer leicht. Außerdem gab es von denen halt leider viel zu wenige, wir haben ja nichts gehabt nach dem Krieg. Auch welche Hürden man überwinden musste, um sein Menschenrecht der anonymen freien Meinungsäußerung ausüben zu können, ist kaum vorstellbar. Versuchen Sie einmal, einem Arschloch anonym zu erklären, dass er eines ist. Eben! Und wenn uns diese Möglichkeit zur fruchtbringenden Diskurserweiterung durch das Internet nicht völlig neue Horizonte eröffnet hat, welche dann?

Aber auch Gleichgesinnte zu finden, mit denen man sich gemeinsam der Pflege seiner Hobbys widmen kann, ist heutzutage ungleich einfacher, da muss man den Jungen echt fast ein bisschen neidig sein. Niemand muss sich mehr ganz allein ausdrucksstarke Bilder von jungen freidenkenden Models ansehen oder sich der Verherrlichung von Schulmassakern widmen, wenn er das nicht will. Da draußen gibt es schließlich genügend andere, die seine Leidenschaft teilen, ist das nicht wunderbar? Und wie bitte hätten sich früher, wie eben in Frankreich, Hunderte sicherlich in jeder Hinsicht kerngesunde Männer so leicht und niederschwellig verabreden können, um unbeschwert mit ihren Kumpels um die Häuser zu ziehen und ein bisschen unschuldigen Spaß zu haben – und wenn es mit dem massenhaften Stechen von Frauen mit Injektionsnadeln ist. Mein Gott na, wir waren schließlich alle einmal jung, oder? Aber wir hatten halt leider nicht so die Möglichkeit …

Man kann sich heute auch nicht mehr vorstellen, wie ungeheuer schwierig es vor dem Internet war, eine vernünftige Anleitung für den Bau einer Bombe zu bekommen. Es gibt da Leidensgeschichten aus diversen Märtyrerforen, da versteht man die Welt echt nicht mehr. Und man wurde früher auch nicht vom amerikanischen Präsidenten in Echtzeit darüber informiert, dass er gerade eine Bombe abgeworfen hat und zwar DIE SCHÖNSTE UND DICKSTE DER WELT!!! Überhaupt haben die Bomben auf Teheran aus dem Internet das Beste hervorgebracht, kann man nur freudig konstatieren, die KI macht nämlich mittlerweile hervorragende Videos auch von Kriegsschauplätzen, es muss keiner mehr hinfahren, um zu berichten, das kostet eh nur Geld und ist ja auch gefährlich. Nicht zuletzt deshalb, weil der Iran ja gewonnen hat. Das letzte Video, das ich gesehen habe, beweist es, da besiegt der Khamenei den Trump im finalen Zweikampf mit dem Wuxi-Fingergriff. Bin gespannt, wie er das seinen MAGA-Heinis erklärt.

Nebst all den bereits erwähnten Verdiensten muss man schließlich dem Internet auch noch zugutehalten, dass es Mark Zuckerberg und Jeff Bezos aberwitzig reich gemacht hat. Das war schon auch richtig und wichtig.

Immer wieder einmal liest man unheilschwangere

Berichte, in denen erklärt wird, wie erledigt wir wären, wenn das Internet längerfristig ausfiele. Dass nichts mehr funktionieren würde und quasi die Zivilisation

zusammenbräche.

Ja. Eh. Schaltet es bloß nicht ab.

Rainer   Nikowitz

Rainer Nikowitz