Antidepressivum
Klar, die Weltlage und die europäische Wirtschaft bieten wenig Erbauliches. Russland will Krieg, nicht Frieden. 1,5 Millionen Tote und Verwundete hat Putins mörderischer Aggressionskrieg gegen die Ukraine bisher gefordert. Trump will Frieden, meint aber wohl eher Geschäfte. Egal, Gaza ist jetzt auch seine Verantwortung, während er mit atemberaubender Geschwindigkeit das US-Politsystem über den Haufen wirft. Die EU rutscht seit Jahren den Hang hinunter, nicht nur wirtschaftlich. Die Nationalpopulisten aller Länder vereint als einzige Konstante ihre EU-Feindlichkeit. Es gibt kein Patentrezept gegen den Aufstieg ihrer zerstörerischen Kräfte.
Was also tun gegen Chaos und „radikale Unsicherheit“*? Kann der Einzelne überhaupt noch irgendetwas tun? Gemeinsames Jammern bietet zwar emotionalen Komfort, aber nur vorübergehend. Angst ist ansteckend, und sie lähmt. Ist Selbstaufgabe die Antwort? Wollen wir wirklich die dekadenten Europäer sein, die sich in triefendem Selbstmitleid willenlos dem Untergang hingeben?
Vielleicht sollten wir einmal tief Luft holen und eine innere Startrampe basteln für den Ausstieg aus dem Depressionszirkus. Kinder wissen, wie es geht: sein Schauferl nehmen und eine Sandburg bauen. Oder etwas Ähnliches. Die pragmatischen Briten sagen „count your blessings“ – frei übersetzt: „Sei dankbar für das, was du hast.“ Oder möchte jemand derzeit lieber Amerikaner sein, Russe, Ukrainer, Palästinenser, Israeli oder Iraner? Na eben.
Europäer sein zu dürfen, ist ein Privileg. Das Brüsseler Personal gefällt nicht allen, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyens Beliebtheit ist begrenzt. Aber dafür ist sie nicht da. Sie und ihre Kommissionsmitglieder sind Profis, rational, informiert, teamfähig, vorhersehbar. Demokratisch trittfest und wachsam. Der Vergleich mit Washington und Moskau macht uns sicher. Zudem ist die EU kostengünstig, allen Verleumdungen zum Trotz. Ein knappes Prozent unseres BIP geben wir aus für ein breites Leistungsspektrum. Jeder EU-Teilhaber hat interessantes Wissen, manches wäre kopierfähig. Etwa bei Gesundheitsreform und Pensionssystem.
Auch die EU als Ganzes weiß, was zu tun ist, um bei Sicherheit und Wirtschaftskraft wieder ganz vorn mitzumachen. Die Herren Letta, Draghi und Niinistö haben detaillierte Handlungsanleitungen geliefert. Es fehlt das Umsetzungstempo. Liebe Regierungen der EU-Länder: Schluss mit dem Urlaubsmodus, rein ins harte, schnelle Krisenmanagement. Samt Aufklärung der Bevölkerung.
Ja, es gibt Fehlentwicklungen. Und die gehören entschlossen bekämpft. Aber bitte mit einem ärmelhochgekrempelten Ansatz. Warum nicht beispielsweise eine „Allianz der Willigen“ bilden zum Bürokratieabbau auf nationaler wie auf EU-Ebene? Mit rasch für den Bürger spürbaren Vorschlägen. Beispielsweise der Verpflichtung, jeden Monat fünf von Bürgerforen in Parlamenten entwickelte Vorschläge zur Streichung von Regeln umzusetzen. Auch im Europäischen Parlament. Warum halten die EU-Parlamentarier dazu nicht daheim monatlich Sprechstunden ab? Warum wird nicht automatisch der jeweilige Parlaments-Berichterstatter zum Ombudsmann für die bürokratiefreie Umsetzung neuer Regeln? Auch mehr Wettbewerbe zur Identifizierung von „Bürokratiebremsen“ wären klug und kostenfrei, wie etwa die Mitarbeiter-Challenge „SOKO Digitalisierung und Entbürokratisierung“ des Wirtschaftsministeriums.
Europa braucht jetzt Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit. Beides ist kostspielig, aber mit Einfallsreichtum, Motivation und neuen Technologien durchaus zu bewältigen. Also los, billigere Energie beschaffen, neue Pflegemodelle entwickeln, industrielle Rüstungs-Cluster bilden, Forschungsprojekte antauchen, den Binnenmarkt durchsetzen, einen europäischen Kapitalmarkt schaffen, Bürger überzeugen. Übrigens: Wie niederschmetternd muss der Anblick von uns alten, fitten, wohlhabenden, aber mutlosen Kopfhängenlassern für unsere Jugend sein! Der Unternehmer Hans Peter Haselsteiner bringt es auf den Punkt, wenn er vor der Vernachlässigung der „Großvaterpflichten“ warnt.
Wir haben keinen Bedarf an noch mehr negativer Energie. Gebraucht werden nicht Abizahrer, sondern Anpacker. Das Mindset der Baumeister, nicht der Jammerlappen. Das wirksamste Antidepressivum heißt Tun. Unbeeindruckt. Innere Haltung: „GnaKo“ – gnadenlose Konstruktivität.