Neutralität à la russe?

Sicherheitspolitik ist der Schutz von Bevölkerung, Territorium und Institutionen. Wie das angesichts der jeweiligen realen Bedingungen bestmöglich organisiert wird, konkretisiert die Sicherheitsstrategie.

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In Österreich wird eine sachliche Debatte über die Sicherheitspolitik durch ein mittlerweile in die Unantastbarkeit entrücktes Neutralitätsverständnis blockiert. Das hat Ende August ausgerechnet der russische Ex-Präsident Dmitri Medwedew wieder bewusst gemacht: Er drohte Österreich bei einem NATO-Beitritt mit Militärgewalt. Durch eine Aufgabe der Neutralität „steigt das Risiko erheblich, dass die Einheiten des Österreichischen Bundesheeres in die Langstrecken-Einsatzpläne der russischen Streitkräfte einbezogen werden könnten“.

Längst hat sich Medwedew mit haarsträubend antiwestlicher Propaganda als Kreml-Hofnarr profiliert. Man könnte seine Hasstirade also als plumpen Einschüchterungsversuch eines hinterbänklerischen Revisionisten abtun. Wäre da nicht der spezifisch österreichische historische Hintergrund. Und wäre da nicht auch innenpolitisch ein beträchtliches Wählersegment, das noch immer nicht wahrhaben will, dass unsere Sicherheitspolitik spätestens seit dem russischen Ukraine-Überfall und der US-Abkehr von Europa dringend neu auszurichten ist. Genau dieses bewirtschaftet die FPÖ, deren Möchtegernkanzler gebetsmühlenartig Brüssel der „Kriegstreiberei“ bezichtigt und der Außenministerin „sicherheitspolitischen Wahnsinn“ und einen „brandgefährlichen Anschlag auf die österreichische Neutralität“ vorwirft.

Ausgelöst hat Kickls Tobsuchtsanfall die Reaktion Meinl-Reisingers auf Medwedews Drohungen: „Es sind ausschließlich die Österreicherinnen und Österreicher, die souverän und frei über unsere Sicherheit und unsere Freiheit entscheiden und niemand sonst.“ So klar wie wahr und unbestreitbar:

Österreich hat seine Neutralität „aus freien Stücken“ beschlossen, wie das BVG 1955 ja ausdrücklich festhält. Wir allein legen die Ausgestaltung der Neutralität fest. Dieses Selbstverständnis manifestiert sich in jahrzehntelanger verfassungs- und europarechtlicher Weiterentwicklung. Ohne dass dies jemals zu einer Nichtanerkennung durch Dritte geführt hätte.

Moskau hat in unserer Sicherheitspolitik schlicht gar nichts mehr zu bestimmen, auch nicht im Umweg über die FPÖ-Spitze. Während Tag für Tag Menschen in der Ukraine im Bombenhagel des Aggressors Putin sterben, fantasiert der FPÖ-Parteiobmann in grenzenlosem Zynismus von einer „europäischen Sicherheitsarchitektur gemeinsam mit Russland“. Aber die Österreicher haben keinerlei Lust, sich dem russischen Spätimperialismus zu unterwerfen.

In Wirklichkeit hat die Sowjetunion bis zum EU-Beitritt 1995 unseren außenpolitischen Spielraum bestimmt. Vier Jahrzehnte lang hat sie bestimmt, was neutralitätskonform war, etwa das Ja zum UNO-Beitritt, das Nein zum EG-Beitritt.

Die Medwedew-Episode illustriert eindrücklich die Dringlichkeit einer ehrlichen sicherheitspolitischen Debatte. Was schützt uns wirklich? Die Neutralität ist jedenfalls kein Schutzschild. Gewalttäter und Aggressoren respektieren sie so wenig wie das Völkerrecht und das Gewaltverbot der UNO-Charta. Historisch war sie der Preis für die Einheit unseres Landes. Die Gründerväter der Zweiten Republik haben uns so das deutsche Schicksal der Teilung erspart. Sie war Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck. Damals wie heute. Auch war die „1955er-Freiheit“ nie vollständig. In Wirklichkeit hat die Sowjetunion bis zum EU-Beitritt 1995 unseren außenpolitischen Spielraum bestimmt. Vier Jahrzehnte lang hat sie bestimmt, was neutralitätskonform war, etwa das Ja zum UNO-Beitritt, das Nein zum EG-Beitritt. 40 Jahre europäischer Einsamkeit am Eisernen Vorhang unter sowjetischer Kuratel sind die unbequeme, aber weitgehend verdrängte Wahrheit. In Medwedews gewalttriefender Tagträumerei gilt das offenbar weiter, mehr als 30 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion.

Es ist höchste Zeit, Medwedew und seinen österreichischen Handlangern in aller Deutlichkeit zu widersprechen. Die Bundesregierung tut daher gut daran, die Sicherheitsstrategie unverzüglich breit zu diskutieren und die Bevölkerung über die aktuellen sicherheitspolitischen Notwendigkeiten und Möglichkeiten aufzuklären. Ohne Scheuklappen oder Denkverbote. Das könnte auch eine engere Zusammenarbeit mit europäischen NATO-Staaten nahelegen, etwa in einem gestärkten europäischen Pfeiler. Wir Österreicher sind und bleiben Teil der europäischen Schicksals- und Solidaritätsunion. Aus dieser Gemeinsamkeit hat sich Moskau mit seinem Krieg gegen die Ukraine und die westliche Demokratie für lange Zeit hinauskatapultiert.

Die Österreicher wollen wirksam geschützt werden. In einer demokratischen Ordnung bedeutet Politik auch die Organisation von Mehrheiten für als richtig erkannte gesellschaftliche Anliegen. Eine offene Debatte ist dafür gerade in der Zeitenwende unabdingbar. Dieser Verantwortung dürfen sich in einer wehrhaften Demokratie weder Bürger noch Regierung entziehen.

Ursula  Plassnik

Ursula Plassnik

Ursula Plassnik war österreichische Außen- und Europaministerin von 2004 bis 2008.