Über die Feigheit

Es wird nichts besser, wenn sich alle nur ducken. Aber das wissen alle ja selber gut genug.

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Übermut tut selten gut. Das lernen die Kinder heute vielleicht nicht mehr in Kindergarten und Schule, weil es irgendwie nicht wertpädagogisch genug klingt, aber die Kultur bringt ihnen das schon bei: Übermut führt ins Verderben, da macht man sich nicht beliebt, da fährt man gegen die Wand.

Wer sich fragt, woher heute die ganzen Anpässler, Duckmäuser und Feiglinge herkommen, muss sich diesen Satz nochmals vornehmen, gründlich, analytisch: Übermut tut selten gut – nur wo fängt das Übermaß an, und wo beginnt der pure Opportunismus?

Die Antwort ist in Wahrheit gar nicht so schwer. Versuchen wir es einmal. Übermut tut selten gut, wenn man einfach blind drauflos mutig ist, was nichts anderes ist als ein Zeichen schwacher Intelligenz. Das gibt es natürlich. Leute ohne Training und Talent, die sich mit geliehenen Skiern Berghänge runterhauen, die Profisportler erblassen lassen.

Oder Leute, die übermütig auch einmal schauen wollen, was passiert, wenn man auf der linken Spur mit 240 auf ein Hindernis trifft. Übermut ist, wenn man ohne jegliche Kompetenz versucht, Unternehmen zu führen oder gar in Regierungen eintritt und statt einer Ahnung nur eine Meinung hat. Übermut ist, wenn man sich die eigene Kompetenz immer nur von den Leuten bestätigen lässt, die auch keine haben.

Die Feiglinge sind die eigentliche Ursache für das Elend. Sie sagen immer: „Schau nicht hin!“ oder „Was geht uns das an?“ 

Wir könnten jetzt so weitermachen. Wir leben in einer Welt der Übermütigen, die aber genau betrachtet gar nicht so mutig sind. Mich erinnern diese Leute an den alten Witz, bei dem ein Ehepaar mit seinem Sohn oder seiner Tochter, die Varianten dürfen Sie sich aussuchen, beim Lernpsychologen sitzt, und der erklärt ihnen ganz ruhig Folgendes: „Nein, Ihr Kind ist nicht hochbegabt. Sie sind nur sehr, sehr dumm.“

Der Übermut, der selten gut ist, trifft aber nun selten die, die ihn haben. Der verrückte Amateur-Abfahrer mag sich schon bei der ersten Kurve um einen Baum wickeln, aber was wird aus seinen Hinterbliebenen? Der irre Raser bringt vielleicht sich selber um, wahrscheinlich aber auch noch einige andere, die nichts mit seiner Dummheit zu tun haben. Und Managerinnen und Manager, falsche Führungskräfte, die es nicht können, ruinieren das Leben anderer Leute, die für sie arbeiten – und das Leben der Menschen, für die sie das tun. Übermut, das ist das Problem, reißt andere mit ins Elend. Deshalb tut er nicht nur selten nicht gut, sondern gar nicht. Übermut ist ein Kapitalverbrechen.

Dass sich diese Leute heute so ungehindert ausbreiten, liegt aber nicht an ihnen selbst, die sie sich wichtig tun, sondern an denen, die sie es sein lassen. Die Feiglinge sind gemeint, die Wegschauer, die Ignoranten. Sie sind die eigentliche Ursache für das Elend. Sie sagen immer: „Schau nicht hin!“ oder „Was geht uns das an?“. Meistens sagen sie aber gar nichts. Feiglinge schweigen, verschweigen lieber, was ist, als sich der Wirklichkeit zu stellen. Fein, denken sich die Übermütigen und Wichtigtuer – und drängen sich noch weiter nach vorn. Und natürlich müssen andere Platz machen und zahlen. Klar. So ist das halt. Feigheit kostet. Deshalb bedeutete, wie uns Wikipedia mitteilt, das Wort Feigheit im Altgermanischen früher auch so viel wie „dem Tode verfallen“, „unselig“ und „verdammt“. Mit anderen Worten: Der Feigling gräbt sich selbst sein Grab. Wer den Übermütigen und Blöden nachgibt, steht selber dumm da. Das gilt nicht nur für Europa und sein Wegschauen vor Putin und Co. Das gilt in Firmen, in der Nachbarschaft, der U-Bahn und im Park.

Ohne Mut, das ist die Botschaft, wird nichts gut. Mut, auch hier hilft uns das Online-Lexikon weiter, kommt vom indogermanischen „mo“, das heißt so viel wie etwas wollen, nach etwas streben.

Es geht um alles, und es geht auch um die Freiheit, jene Sache, von der der britische Schriftsteller George Orwell sagte, dass sie, wenn „sie irgendetwas bedeutet, dann das Recht darauf, den Leuten Dinge zu sagen, die sie nicht hören wollen“.

In diesem Sinne: Seid nicht feig. Traut euch was!

Wolf  Lotter

Wolf Lotter

ist Autor und Journalist und schreibt einmal monatlich eine Kolumne für profil, wo er von 1993 bis 1998 Redakteur war.