Ursula Plassnik war österreichische Außen- und Europaministerin von 2004 bis 2008.

Selbstverteidigung rechtfertigt nicht jede Unmenschlichkeit

Die verzweifelte Aussichtslosigkeit des Nachbarn taugt nicht als Grundlage für die eigene Sicherheit. Dauerhafter Frieden braucht einen Rahmen, der auch dem Nachbarn einen Platz und Lebensgrundlagen bietet.

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Israel war in seiner 87-jährigen Geschichte noch sie so mächtig wie heute. Es gestaltet den Nahen Osten scheinbar nach Belieben um. Der amerikanische Freund hat auf Betreiben Netanjahus die stärkste konventionelle Bombe der Welt gegen iranische Nuklearanlagen eingesetzt. Israels Militär und Geheimdienste haben die Bedrohungen aus Gaza, dem Libanon, Syrien und Iran ganz oder weitestgehend ausgeschaltet. Der mächtigste Staat der Region, Saudi-Arabien, will lieber heute als morgen seine Beziehung mit dem regionalen Hightech-Führer normalisieren, wie es die Emirate, Bahrain und Marokko 2020 schon getan haben. Mit Ägypten und Jordanien hat Israel Friedensverträge.

Dennoch. Die tiefe Wunde des 7. Oktober bleibt. Dieselbe Regierung, deren militärische Kraftakte so beispiellos sind, konnte die eigene Bevölkerung nicht vor dem mörderischen Überfall der Hamas schützen. Konnte nicht verhindern, dass Jugendliche bei einem Musikfest und ganze Familien in ihren vier Wänden auf brutalste Weise hingemetzelt wurden. Dutzende israelischer Geiseln sind noch immer in Gefangenschaft.

Sieht so die Sicherheit der Zukunft aus?

Waffengewalt allein kann weder Grenzen sichern noch Frieden erzwingen. Oder Geiseln befreien. Die Regierung trichtert einer zutiefst verunsicherten Bevölkerung die Alternativlosigkeit ihrer Vorgangsweise ein. Noch kommt sie damit durch. Aber wie lange hält die Anästhesie des 7. Oktober an? Die unselige Spirale der Gewalt dreht sich in Gaza und der Westbank immer schneller. Jedes Strafrecht verbietet Notwehrüberschreitung. Selbstverteidigung rechtfertigt nicht jede Unmenschlichkeit.

Hätte Israels Regierung so viel Energie in Verhandlungen mit den Palästinensern gesteckt wie in Militäraktionen, gäbe es längst einen Waffenstillstand.

Das Medienembargo in Gaza verhindert, dass die israelische Öffentlichkeit sich selbst ein Urteil über die Angemessenheit des Vorgehens bilden kann. In einer Demokratie ist das kein haltbarer Zustand. Auch die Welt sieht und hört überwiegend, was Israels Regierung sie sehen und hören lassen will. Das Leid der Frauen, Kinder und Alten in Gaza wirkt abstrakt. Schicksale hinter den Zahlen bleiben unsichtbar, Betroffenheit wird kleingehalten. Das Drehbuch der Entmenschlichung des Nachbarn läuft. Mehr als 57.000 Tote, Hunger als Kriegswaffe, mehr als 1000 tote Hilfesuchende an den Verteilpunkten der höchstumstrittenen Gaza Humanitarian Foundation.

Wer glaubt, dass so die Sicherheit von Israel für morgen entsteht?

Gaza und Jerusalem gehören zu den ältesten Städten der Welt. Beide haben viele Belagerungen, Eroberungen, Gewalt und Zerstörung erlebt. Wie auch Rafah an Ägyptens Grenze. Wo vor dem 7.Oktober fast 200.000 Menschen gelebt haben, gibt es heute keine Zivilisten mehr. Ausgerechnet dort errichtet Verteidigungsminister Israel Katz eine neue „humanitäre Stadt“. Armee und Ministerium sind mit der Umsetzung beauftragt. Die gesamte Zivilbevölkerung des Gazastreifens soll dorthin gebracht werden. Raus kann nur, wer definitiv in ein anderes Land ausreist. Im Klartext geht es um die Errichtung von gefängnisartigen Massenlagern, die Zwangsumsiedlung von mehr als zwei Millionen Menschen und schließlich ihre Vertreibung.

Der aktuelle „Rafah-Plan“ Israels ist auch im gewaltgeplagten Nahen Osten präzedenzlos: die öffentliche Ankündigung von Maßnahmen, die auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bis zum Völkermord hinauslaufen. Selbst die israelische Armee lehnt diesen Plan ab. Man möchte ihn für Propaganda halten, aber Satellitenbilder dokumentieren die Vorbereitungen. Allein zwischen April und Juli erhöhte sich die Zahl der zerstörten Gebäude von 15.899 auf 28.600. Rafah wird für die „humanitäre“ Zeltstadt plattgemacht: ein monströses Unterfangen.

Hätte Israels Regierung so viel Mittel und Energie in Verhandlungen mit den Palästinensern und regionalen Partnern gesteckt wie in Militäraktionen, gäbe es längst einen Waffenstillstand, befreite Geiseln und einen Plan für eine gemeinsame Zukunft von zwei Staaten, Seite an Seite. Israel hat viel Erfahrung in Sachen Staatsgründung. Die sollte jetzt den palästinensischen Nachbarn zugutekommen. Man kann die Zweistaatenlösung totreden. Aber die nüchterne Wahrheit ist: Ohne eine angemessene Lösung für die Palästinenser, einen eigenen Staat, wird es keine dauerhafte Sicherheit für Israel geben. Der heilige Kern der israelischen Staatsgründung, eine sichere Heimstätte für die Juden aus aller Welt, bliebe ein hohles Versprechen.

Ursula  Plassnik

Ursula Plassnik

Ursula Plassnik war österreichische Außen- und Europaministerin von 2004 bis 2008.