Leitartikel: Michael Nikbakhsh

Michael Nikbakhsh Die große Leere

Die große Leere

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Das ist sie also, die Krise, die noch vor wenigen Wochen nur düstere Prognose war. Im Februar registrierte das Arbeitsmarktservice landesweit 301.695 Arbeitslose – fast ein Viertel mehr als noch vor einem Jahr. Nun könnte man einwenden, dass es schon in der Vergangenheit immer wieder Arbeitslosenzahlen jenseits der 300.000 gegeben hat, zuletzt im Februar 2006. Auch der sprunghafte Anstieg wäre für sich genommen nicht mehr als ein saisonaler Ausreißer, wie sie in der Vergangenheit immer wieder zu beobachten waren.

Es ist eine andere Relation, die bedrückt: Parallel zum Anstieg der Arbeitslosen sank nämlich auch erstmals seit Jahren wieder die Zahl der Beschäftigten. Im Februar gingen in Österreich 3,34 Millionen Menschen einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nach – um 0,7 Prozent weniger als im Februar 2008. Die Zahl der gemeldeten offenen ­Stellen fiel überhaupt um 29 Prozent. Zusammengenommen ergibt dies allein schon eine gefährliche Dynamik.

Dabei erfasst die Statistik ausdrücklich nicht jene 45.000 Industriearbeiter, die derzeit zu Kurzarbeit gezwungen sind; längst nicht alle werden den Weg zurück in ein reguläres Dienstverhältnis finden. Und sie lässt auch weitere 58.000 Personen außen vor, die derzeit Aus- und Weiterbildungsprogramme des AMS durchlaufen. Sie sind zwar vorderhand beschäftigt, gehen aber natürlich auch keiner Erwerbstätigkeit nach.

Mehr Arbeitslose, weniger Jobs – das geht auf Dauer nicht gut. In letzter Konsequenz trifft diese Krise alle – und doch sind nicht alle vor ihr gleich. Leidtragende sind in erster Linie die so genannten bildungsfernen Bevölkerungsschichten. Sie drängen traditionell in heillos überlaufene, obendrein konjunktursensitive Branchen, in denen zwei starke Arme oft mehr gelten als ein kluger Kopf. Es ist keine Überraschung, dass der weitaus größte Teil der neuen Arbeitslosen auf das Konto der Sachgüterindustrie (plus 47 Prozent im Februar) und der Bauwirtschaft (plus 32 Prozent) geht.

Die Krise beraubt vor allem die Jungen ihrer Perspektiven. Die Zahl der Arbeitslosen im Alter unter 25 Jahren ist im Februar um 35,9 Prozent und damit überdurchschnittlich stark gestiegen. Steht zu befürchten, dass dieser Trend sich im Jahresverlauf nur noch verfestigen wird. Es ist für Arbeitgeber nun einmal ungleich unkomplizierter, junge, gewerkschaftlich möglicherweise nicht organisierte Mitarbeiter zu feuern (oder gar nicht erst einzustellen) als ältere Kollegen mit familiären Verpflichtungen und verbessertem Kündigungsschutz. Wer jung ist und nichts richtig gelernt hat, darf sich auf ein Dasein irgendwo zwischen prekärem Arbeitsverhältnis und Arbeitsamt einstellen – und das, ehe das eigentliche Erwerbsleben überhaupt begonnen hat.

Nun ist so gut wie allen jungen österreichischen Arbeitslosen und denen, die es noch werden dürften, eines gemein: Sie haben österreichische Bildungseinrichtungen besucht. Sie sind also ausnahmslos durch ein System geschleust worden, das sich seit Jahrzehnten in beispielloser Verkennung der Tatsachen seiner Qualitäten rühmt. Siehe PISA. Bei sehr gnädiger Auslegung der nun vollständig ausgewerteten ­Testergebnisse 2006 könnte man schlussfolgern, dass Österreichs Buben und Mädchen, verglichen mit jenen anderer OECD-Staaten, allenfalls Mittelmaß sind. Für ein Land wie dieses, zumal eines der wohlhabendsten der Welt, ist das definitiv zu wenig. An den Schülern selbst wird es kaum ­liegen.
Es ist empirisch jedenfalls nicht zu belegen, dass Kinder in Österreich per se rückständiger seien als in Finnland, Neuseeland oder Japan – diese Länder kamen bei den PISA-Tests 2006 etwa im Bereich Naturwissenschaften auf den höchsten Anteil an so genannten Spitzenschülern.

Österreichs beamtete Lehrer werden diese Krise, wie lange sie auch immer dauern mag, vergleichsweise unbeschadet überstehen. Sie sind unkündbar, gewerkschaftlich bestens organisiert und müssen sich folglich nicht den Fährnissen eines immer kompetitiveren Arbeitsmarkts stellen. Die Funktionäre der Lehrer-Gewerkschaft drohen einer Bundesregierung jetzt vielmehr mit Streiks, weil diese sich erfrecht, die Lehrverpflichtung ab dem kommenden Schuljahr um zwei Wochenstunden erhöhen zu wollen. Aber sie tun es eben nicht, weil sie daran zweifelten, dass dadurch die Qualität des Unterrichts angehoben würde (diese Zweifel sind in der Tat mehr als berechtigt). Die Lehrer wollen partout nicht kooperieren, weil sie die eigenen finanziellen Interessen und Befindlichkeiten unverhohlen über das Schicksal tausender heute schulpflichtiger Kinder und Jugendlichen stellen. Jener also, die sehr bald schon das wichtigste Kapital unserer Volkswirtschaft bilden sollen.

Umgekehrt ist bis heute wenig überraschend kein Lehrer aufgestanden, um seinen persönlichen Anteil an der Bildungsmisere anzuerkennen.
Österreichs Bildungssystem, dessen integraler Bestandteil die Lehrer nun einmal sind, ist drauf und dran, die Arbeitslosen von morgen heranzuziehen. Wenn hier jemand für bessere Bedingungen streiken sollte, dann am ehesten noch die Schüler.

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Michael   Nikbakhsh

Michael Nikbakhsh

war bis Dezember 2022 stellvertretender Chefredakteur und Leiter des Wirtschaftsressorts.