Kommentar

Die Sünden der Mitte

Was liberale Politiker mit dem Aufstieg radikaler Kräfte zu tun haben und wie Rechtspopulisten geschwächt werden können.

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Wer wird Deutschland nach den Bundestagswahlen am Sonntag regieren? Die AfD soll der neuen Koalition nicht angehören, das hat CDU-Chef Friedrich Merz wiederholt ausgeschlossen. Nervös sind die liberalen Kräfte von konservativ bis sozialdemokratisch trotzdem. Die in Teilen rechtsextreme AfD hat zuletzt große Erfolge erzielt. Bei den Landtagswahlen in drei östlichen Bundesländern kam sie im vergangenen Herbst auf jeweils rund 30 Prozent.

Die Angst vor der AfD treibt die Union von CDU und CSU nach rechts, und es besteht Sorge, dass die Brandmauer bei den Wahlen im Jahr 2029 endgültig fallen könnte. Ende Jänner stimmte die Union mit Unterstützung der AfD im Bundestag für einen harten Migrationskurs, darunter Zurückweisungen von Asylsuchenden an deutschen Grenzen. Die politische Ausgrenzung der AfD – und die Abgrenzung von ihr – funktioniert immer schlechter.

Was kann die demokratische Mitte tun, um Parteien wie die AfD zu schwächen? Von einem Parteiverbot raten die meisten Experten ab, sinnvoller sei, die Rechtspopulisten inhaltlich zu bekämpfen. Dazu gehören eine klare Abgrenzung und der Hinweis auf Widersprüche. Die AfD könne nur geschwächt werden, wenn sich alle demokratischen Parteien den vereinfachenden, falschen Narrativen der Rechtspopulisten konsequent widersetzen, so die Argumentation.

Die Frage ist nur, ob das reichen wird. Angriffsflächen bietet die Partei zwar genug, die AfD hat eine ganze Reihe an Skandalen am Hals. Gewählt wird sie trotzdem.

In einem kürzlich im „New European“ erschienenen Essay legt der Politikstratege Peter Hyman dar „Wie man Populismus schlagen kann“. Hyman entstammt dem sozialdemokratischen Lager, er beriet den früheren britischen Premierminister Tony Blair und verhalf dem aktuellen, Keir Starmer, vergangenes Jahr zum Wahlsieg. Die zunehmenden Erfolge von Populisten wie Donald Trump sieht Hyman als Folge der „sieben Todsünden der liberalen Mitte“. Diese sei bevormundend, selbstgefällig, leichtgläubig und langweilig. Darüber hinaus agiere die liberale Mitte als zensurierende „Gedankenpolizei“, sie formuliere zu abstrakt und sei zu konservativ in dem Sinn, dass sie am Status quo festhalte, anstatt Veränderung voranzutreiben. Hymans Essay ist ein Frontalangriff auf Mitte-Politiker wie Joe Biden, Olaf Scholz und Emmanuel Macron.

Hymans Vorwürfe mögen überzogen sein, doch er hat einen Punkt. Bei aller relevanten Kritik an Donald Trump, Alice Weidel oder Javier Milei lässt sich eines nicht leugnen: Sie unterhalten ihr Publikum. Verglichen mit dem Krawall der Rechtspopulisten verströmen die Hinweise auf Fakten und internationale Regeln den Charme langatmiger Moralpredigten. Das Festhalten an Demokratie, Rechtsstaat und global gültigen Gesetzen wird als Schwäche ausgelegt. Disruption gewinnt.

Für die liberale Mitte gerät der weltweite Aufstieg der Rechtspopulisten zum Dilemma. Wer demokratische Prinzipien einhalten will, kann unmöglich nach denselben Regeln spielen wie Trump, Weidel und Milei. Dass die Disruptoren nicht mehr auf professionelle Medien angewiesen sind, die sich an den journalistischen Kodex halten und Behauptungen mit Fakten belegen müssen, macht die Sache nicht einfacher. Rechtsextreme und Rechtspopulisten haben längst ihre eigenen Influencer, Podcasts, TV-Sender und Nachrichten-Sites.

Deshalb ruft Hyman die liberale Mitte dazu auf, ihre Kommunikationsstrategien radikal umzukrempeln und sich gegen disruptive Mediengiganten (gemeint sind wohl allen voran Elon Musk und dessen Plattform X) zur Wehr zu setzen. Und es bräuchte neue Ideen und Narrative, hervorgebracht mit Selbstvertrauen und Elan, die das Publikum ansprechen. „Eine Revanche ist möglich“, schreibt Hyman – sofern die „sieben Sünden“ vermieden würden.

Im Falle Deutschlands kommt eine achte hinzu: Die Annäherung der CDU an die Narrative der AfD. Die Positionen der Rechtspopulisten zu übernehmen, nützt vor allem den Rechtspopulisten, das ist empirisch nachgewiesen.

Diesmal dürfte der politische Ausschluss der deutschen Rechtsextremen auf Regierungsebene noch halten. Doch die AfD hat ihre Strategie ohnehin langfristig ausgelegt: Ziel ist eine Regierungsbeteiligung nach den Bundestagswahlen von 2029.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.