Robert Treichler: Ehe wir alle durchdrehen

Die Pandemie schürt in uns Emotionen. Wohin damit? Ein naiver Aufruf.

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Spüren Sie was? Die Pandemie löst etwas in uns aus. Keine Angst, es geht hier definitiv nicht um Virologie oder um Coronavirus-Bekämpfungsmaßnahmen. Dergleichen überlasse ich ebenso neid- wie kampflos der Wissenschaftsredaktion. Doch abseits medizinischer Komplikationen entfaltet eine Pandemie emotionale Nebenwirkungen, die für Völker, Gesellschaften und Staaten folgenschwer sein können. Im Lauf der Geschichte haben sich Leute angesichts solcher Krisen mal in tiefe Religiosität, mal in ebenso bodenlose Lasterhaftigkeit gestürzt – die eine Reaktion lässt sich mit der Verzweiflung angesichts der Machtlosigkeit gegenüber einer todbringenden Krankheit erklären, die andere … auch.

Den Reaktionen auf eine Pandemie liegen starke Gefühle und daraus resultierende Abgründe zugrunde: Angst, Verunsicherung, Zorn, Misstrauen, Fatalismus. In Südafrika führte die weltweit grassierende Spanische Grippe (1918–1920) zu rassistischen Segregationsmaßnahmen unter dem Deckmantel von Quarantänebestimmungen; in Indien wurden hingegen strikte gesellschaftliche Grenzen überschritten, um Hilfe besser organisieren zu können; im ländlichen China suchten Menschen Schutz vor Dämonen; im katholischen Spanien wurde das Verbot von Massenveranstaltungen ignoriert, um bei Messen „Gottes nachvollziehbaren Zorn“ zu besänftigen. All das beschreibt die Autorin Laura Spinney in ihrem Buch „1918 – Die Welt im Fieber“.   

Jetzt leben wir selbst im Fieber. Klar, wir kennen die naturwissenschaftlichen Erklärungen für eine Virus-Epidemie, die Sicherheitsvorkehrungen zur Vermeidung von deren Ausbreitung, und wir warten ungeduldig darauf, geimpft zu werden. Regierungsmitglieder erläutern, was wir zu tun haben, Virologen liefern die unbestreitbaren medizinischen Fakten.

Alles schön und gut, aber was unberücksichtigt bleibt, sind unsere Emotionen. Bloß weil wir Kinder des dritten Jahrtausends sind, haben wir uns nicht einfach so mit allen Kausalzusammenhängen des Universums abgefunden. Insbesondere nicht damit, dass ein verdammtes Virus uns als Wirt benutzt und wir deshalb nicht mehr zum Wirten gehen dürfen.   

Ich ziehe den Kalauer zurück. Oder nein, ich tu es nicht! In „Il Decamerone“ schreibt Giovanni Boccaccio über die Pest: „Seine Lust zu befriedigen und über jedes Ereignis zu lachen und zu spaßen, sei das sicherste Heilmittel für ein solches Übel.“   

Die Wahrheit ist: Es fehlen uns die emotionalen Notausgänge. Wir haben keine Geister, um die Dämonen zu vertreiben, deren Existenz wir falsifiziert haben, keine Religionen, deren Götter wir entmachtet haben, keine metaphysischen Ideen, deren Irrwitz uns nur noch kichern lässt. Weil aber der psychische Druck groß ist und die Abwehrkräfte gegen den Unsinn schwinden, gewinnen Verschwörungstheoretiker Zulauf, und blinder Trotz gegen Fakten und Notwendigkeiten wird zum Lifestyle. Sind die Irren tatsächlich die Einzigen, die Emotionen kanalisieren können? Wenn sich niemand um die Gefühlslage der Leute kümmert, gehen viele durch die Decke.
    

Wir alle schwanken zwischen Ärger, Sorgen, Hoffnung und Schwarzmalerei, und es ist niemand da, der irgendetwas Anrührendes, Sinnstiftendes sagt. Kurz, Anschober, Merkel, Macron verlautbaren das, was wir wissen müssen, mehr nicht. Die einzige herzerwärmende Rede bisher hielt ausgerechnet Boris Johnson, aber auch erst, nachdem er dem Covid-19-Tod entronnen war. Und das einzige gemeinsame Ritual war der abendliche Applaus für das medizinische Personal während des ersten Lockdowns, doch das überdauerte den Sommer nicht.   

Masseninfektionen, Ausgangsbeschränkungen und eine abgrundtiefe Wirtschaftskrise sind Bedrohungen für das Kollektiv. Es bräuchte deshalb eine gemeinschaftliche Antwort und Momente der Zusammengehörigkeit. Wahrscheinlich wäre eine ORF-Aktion in der Art von „Licht ins Dunkel“, bei der man Patenschaften für benachteiligte Schulkinder übernehmen kann, schon mal ein guter Anfang.   

Vielleicht auch eine internationale Show in entmotteter Eurovision, leichte Muse mit allen aufzubietenden Stars, eine Art „We Are the World“ zum Thema „Wir kriegen das Virus klein“. Ein paar Witze auch, bitte. Trübsinn mag der Situation angemessen sein, aber man kann alles übertreiben. Verträgt sich der Kampf gegen eine Viruserkrankung und deren Folgen mit Unterhaltung? Beim Life Ball klappte das.
    

Sind das naive, biedere, unpolitische Vorschläge? Ja. Es geht um massentaugliches Gemeinschaftsgefühl, nicht um ein Handbuch zur Neuordnung der Welt. Eine Pandemie verurteilt zur äußerlichen Passivität. Nach einer Schlammlawine kann man schaufeln, nach einem Hurrikan wiederaufbauen. Wir hingegen müssen zu Hause sitzen und dürfen gerade mal Brotbacken lernen.

Im dritten Jahrtausend haben und brauchen wir keine Götter und keinen Hokuspokus, um durch eine Pandemie zu kommen. Was wir haben, ist Eigenverantwortung; auch dafür, welche Stimmung in unserer Welt herrscht.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur