Robert Treichler: Können wir es besser als China?

Im Kampf gegen das Coronavirus muss sich unsere Demokratie beweisen.

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Warum gehen schwedische Kinder unter 16 Jahren trotz Coronavirus-Pandemie zur Schule? Warum haben viele Geschäfte in Schweden noch geöffnet, warum sind Hochzeiten vom Veranstaltungsverbot ausgenommen? Warum erlaubt die finnische Regierung Veranstaltungen mit weniger als 500 Personen? Warum lässt sie zu, dass Personen, die sich in Regionen mit einer hohen Infektionsrate aufgehalten haben, nach Rücksprache mit ihrem Arbeitgeber weiterarbeiten? Warum gestattet die polnische Regierung Zusammenkünfte von bis zu 50 Personen? Warum ließ die französische Regierung vergangenen Sonntag in 35.000 Kommunen Wahlen abhalten?

Das Coronavirus breitet sich auf dem ganzen Kontinent aus, doch die nationalen Regierungen tun so, als sei der Erreger in Italien gefährlicher als in Schweden und als müsse er in Deutschland mit anderen Mitteln bekämpft werden als in Polen. Jedes Land ersinnt eigene Regeln – abhängig davon, wie weit die Epidemie innerhalb der eigenen Grenzen bereits fortgeschritten und wie groß die kulturell verankerte Abneigung gegenüber Zwangsmaßnahmen ist.

Das ist verrückt.

Selbstverständlich hätten die 27 Regierungen der EU-Staaten (und natürlich am besten auch Großbritannien, die Schweiz und Norwegen) längst einen gemeinsamen Pandemie-Plan beschließen sollen. Die EU hat keine Kompetenzen, um Derartiges zu verordnen, aber das ist kein unüberwindliches Hindernis. Während der Euro-Krise etablierten die (liquiden) Staaten der Euro-Zone das Rettungsinstrument des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) als Vertrag zwischen den einzelnen Regierungen.

Anstatt voller Pathos auf nationaler Ebene einen „Krieg“ gegen das Virus auszurufen, wie Frankreich Staatspräsident Emmanuel Macron dies getan hat, wäre eine koordinierte Vorgangsweise in Europa sinnvoller. Die österreichische Bundesregierung hat rasch eine klare Linie gefunden: einschneidende Maßnahmen, begleitet von einleuchtenden Erklärungen für die Bevölkerung. Wäredieser Weg gleichzeitig von allen EU-Staaten beschritten worden, stünde Europa um einiges besser da (der Fall Tirol ist dabei eine unrühmliche Ausnahme).

Gerade jetzt muss die westliche Demokratie ihre Stärke beweisen.

Warum dies nicht geschehen ist, ist nachvollziehbar. Demokratien tun sich schwer damit, der Bevölkerung drastische Einschränkungen im Alltag zu verordnen. Solange die Angst nicht groß genug ist, weil die Zahl der nachgewiesenen Infektionsfälle scheinbar gering bleibt, zögern die Regierungen. Deshalb hinkt vor allem der Norden Mitteleuropa hinterher.

Aber gerade jetzt muss die westliche Demokratie ihre Stärke beweisen. Ist sie in der Lage, ihre Bevölkerung ebenso gut zu schützen, wie es das autoritäre China geschafft hat – und dabei noch die Freiheitsrechte zu bewahren?

Das Regime von Chinas Staatspräsident Xi Jinping verhängte über die am stärksten betroffene Provinz Hubei eine Quarantäne von eineinhalb Monaten und kontrollierte sie rigoros. Europas Regierungen versuchen, eine Art „Ausgangssperre light“ zu etablieren und den Staatsbürgern dabei ein gewisses Maß an Selbstverantwortung zu gewähren.

Das setzt allerdings ein entsprechendes Verantwortungsgefühl in der Bevölkerung voraus. Als Vorteil der Demokratie gegenüber der Diktatur sollte sich auch in dieser Situation das Vertrauen erweisen, das die Bevölkerung in Politiker setzt, die sie gewählt hat. Autoritäre Regimes müssen mangelndes Vertrauen mit den Mitteln des Polizeistaats ausgleichen. Es wird sich zeigen, ob das Image und die Reputation unserer westlichen Politiker groß genug sind, damit wir auch längere, unangenehme Phasen der semifreiwilligen Selbstisolation akzeptieren.

Die Ablehnung der Eliten in den vergangenen Jahren würde vermuten lassen, dass die Renitenz im Volk überwiegt, aber vielleicht – hoffentlich! – gelingt es den Regierungen gerade in der gegenwärtig bedrohlichen Ausnahmesituation, sich das Zutrauen der Bürger wieder zu erarbeiten.

Dieser Wunsch steht nicht im Widerspruch zur ureigensten Aufgabe des Journalismus: zu hinterfragen. Nur eine Regierung, die zulässt, dass die von ihr präsentierten Fakten und die von ihr gesetzten Handlungen kritisch beleuchtet werden, kann überhaupt Vertrauen gewinnen.

China hat bewiesen, dass eine autoritäre Führung dazu nicht in der Lage ist. Journalisten und andere, die das anfängliche Zögern Pekings angeprangert haben, wurden „unter Quarantäne“ gestellt – und zwar so, dass weder Freunde noch Angehörige über ihren Verbleib informiert sind.

Am Dienstag vergangener Woche schließlich kündigte die chinesische Führung an, Journalisten der führenden US-Medien – „The New York Times“, „The Wall Street Journal“ und „The Washington Post“ – des Landes zu verweisen. Diese Maßnahme ist eine Retourkutsche für die Beschränkungen, die US-Präsident Donald Trump chinesischen Staatsmedien in den USA auferlegt hat. Doch Journalisten loszuwerden, die von der US-Regierung unabhängig sind, ist eine gänzlich anders gelagerte Maßnahme.

Der Kampf gegen das Coronavirus ist nicht unpolitisch. Er findet nicht in einem Paralleluniversum statt, sondern vielmehr genau hier, wo unsere Regierungen, unsere Verfassungen, unsere Rechte, unsere Medien und schließlich: wir alle eine Rolle spielen.

Sie alle, wir alle müssen beweisen, dass wir dieser Rolle gerecht werden und unser System das beste ist, um auch mit einer Pandemie fertigzuwerden.

[email protected] Twitter: @robtreichler

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Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur