Robert Treichler: Der Partyschreck

Ausgelassen? Gar nicht? Wie man Israels Geburtstag feiern soll.

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Die Einladungen sind ausgesandt, Festakte, Empfänge und Partys organisiert, die Reden geschrieben, und die Festtagslaune … na ja, dazu später. Am 19. April feiert Israel den 70. Jahrestag seiner Unabhängigkeit, und man muss historisch völlig ahnungslos sein, um nicht zu kapieren, welche Bedeutung dieses Ereignis hat. Am 14. Mai 1948 (im hebräischen Kalender der 5. des Monats Ijjar), drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, rief David Ben-Gurion den neuen Staat Israel aus und wurde dessen erster Ministerpräsident. Die Juden, die dem Holocaust entronnen waren, errichteten ihren eigenen Staat. Dass dieser in den folgenden sieben Jahrzehnten ein demokratischer Rechtsstaat geworden und geblieben ist, ist eine der herausragenden Leistungen seiner Bürgerinnen und Bürger. Dass Antisemiten aller Arten die Existenz des jüdischen Staates, der Juden aus aller Welt Sicherheit und ein Refugium bietet, seit jeher bekämpfen, ist allein schon Grund genug, das Bestehen Israels zu akklamieren.

Bis hierher kein Einwand also. Die Feiern müssen stattfinden. Danke für die Einladung.

Doch der Staat Israel hat nicht nur eine Raison d'Être und eine historische Bedeutung, sondern auch eine Gegenwart, eine Regierung, eine politische Verfasstheit.

Doch der Staat Israel hat nicht nur eine Raison d'Être und eine historische Bedeutung, sondern auch eine Gegenwart, eine Regierung, eine politische Verfasstheit. Soll man die zum bevorstehenden Jubeltag außer Acht lassen?

Ronald S. Lauder steht nicht im Verdacht, ein Linker zu sein, und noch weniger, antisemitische Neigungen zu hegen. Der Präsident des Jüdischen Weltkongresses und frühere US-Botschafter in Österreich unterstützt in den USA die Republikaner und in Israel den rechten Likud-Block von Regierungschef Benjamin Netanjahu; Israel bezeichnet er als seine zweite Heimat. Einem Kommentar, den er im März für die „New York Times“ schrieb, gab er den Titel „Israels selbst zugefügte Wunden“.

Es ist kein fröhlicher Text, obwohl Lauder gleich zu Beginn darlegt, mit welchem Stolz ihn der 70. Unabhängigkeitstag Israels erfülle. Der 74-jährige, nicht-orthodoxe Jude nennt zwei Bedrohungen, die er als existenzielle Gefahren für das Land ansieht. Die erste sei das „mögliche Abgehen von der Zwei-Staaten-Lösung“. Annexionspläne und der extensive Bau jüdischer Siedlungen auf palästinensischem Gebiet schüfen eine „irreversible Ein-Staat-Realität“. Die zweite Gefahr bestehe, so Lauder, in der „Kapitulation Israels vor religiösen Extremisten“. Besonders die Juden in der Diaspora fühlten sich zusehends vom Judenstaat entfremdet, wo durch staatlich durchgesetzte Religiosität „eine moderne, liberale Nation in eine semi-theokratische“ verwandelt werde.

Das Israel des Jahres 2018 befindet sich in schlechter Verfassung, und daran ist es zu einem großen Teil selbst schuld.

Das Israel des Jahres 2018 befindet sich in schlechter Verfassung, und daran ist es zu einem großen Teil selbst schuld. Seine Politiker haben den Verlockungen der Rechthaberei und des Triumphalismus nicht widerstanden, der Landgewinn auf Kosten der Palästinenser ist Schandmal und Menetekel zugleich.

Jahrzehntelanger Terror der Palästinenser hat tiefe Spuren hinterlassen. Er hat die israelische Bevölkerung politisch verroht und extremen Hardlinern in die Arme getrieben. Warnungen wohlmeinender Freunde und Verbündeter von außen – ob aus den USA oder Europa – werden als böswillige Zumutungen zurückgewiesen. Kritik gilt als Feindseligkeit gegenüber allen Juden, und damit als Antisemitismus.

Solcherart eingeigelt vertraut Israel allenfalls noch denen, die es bedingungslos unterstützen, und davon gibt es nur wenige. US-Präsident Donald Trump etwa. Was seit zehn Tagen an der Grenze zu Gaza geschieht, ist eine Momentaufnahme, doch sie sagt schrecklich viel über das heutige Israel aus.

Es begann mit angekündigten Demonstrationen von Palästinensern, die ein „Recht auf Rückkehr“ für palästinensische Flüchtlinge und deren Nachkommen in das Gebiet des heutigen Israel fordern. Es ist dies ein seit Langem erhobenes und von Israel zurückgewiesenes Verlangen. Die Proteste fanden in der Nähe des Grenzzaunes zu Israel statt. Die israelische Regierung reagierte auf ausnehmend brutale Weise: Versuche, den Zaun zu beschädigen oder sich diesem auch nur zu nähern, wurden als Terrorangriffe eingestuft. Scharfschützen bekamen Schießbefehl. 20 Palästinenser wurden durch gezielte Schüsse getötet.

Die israelische Armee gab bekannt, zwei der Getöteten seien bewaffnet und zehn seien Mitglieder palästinensischer Terrororganisationen gewesen, und sie veröffentlichte Fotos von Molotow-Cocktails.

Dass eine bestens ausgerüstete Armee wie die Israel Defence Forces Demonstranten, die mit Molotow-Cocktails, Steinschleudern und brennenden Reifen bewaffnet sind, nur mit scharfer Munition davon abhalten könne, in freiem Gelände auf israelisches Gebiet vorzudringen, ist eine mehr als abwegige Annahme. Doch Verteidigungsminister Avigdor Lieberman sah auch nach 20 Toten keine Veranlassung, die Strategie zu ändern. Die Scharfschützen bleiben auf ihren Posten.

Europäische Regierungen drückten ihre Besorgnis aus, Israel reagierte empört. Der UN-Sicherheitsrat wollte eine unabhängige Untersuchung der Vorfälle verlangen, die USA blockierten dies. Israel bunkert sich immer mehr ein.

Ändert all das etwas an der Richtigkeit, Israel an seinem Geburtstag hochleben zu lassen? Nein. Ich bin zu einer der Feiern eingeladen und werde hingehen. Gut gelaunt? Nein, das nicht.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur