Meinung

Putin provozieren, aber richtig

Erst will der Westen keine schweren Waffen an die Ukraine liefern, dann tut er es doch; erst keine Kampfpanzer, dann doch welche. Wohin führt dieser Weg? In einen Atomkrieg? Eine Analyse.

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Warum lehnen westliche Staaten monatelang ab, Panzer an die Ukraine zu liefern, und tun es schlussendlich doch? Warum taten sie dasselbe bei Luftabwehrraketensystemen? Und wird es demnächst mit Kampfflugzeugen genauso sein - jetzt sagen das Weiße Haus und andere Regierungen nein, und in ein paar Monaten werden sie ankündigen, den ukrainischen Streitkräften F-16-Jagdbomber zur Verfügung zu stellen? Eine nicht besonders gewagte Prognose: Ja, das ist sogar sehr wahrscheinlich. Was aber steckt hinter dieser seltsamen Taktik, ein Waffensystem nach dem anderen erst zu tabuisieren und dann freizugeben.

Fast ein Jahr nach Kriegsbeginn sorgt die Strategie des Westens zunehmend für Unbehagen. Anfangs hieß es, man wolle Wladimir Putin, den russischen Aggressor, nicht provozieren, nun sieht es immer mehr so aus, als gingen die NATO-Verbündeten dazu über, genau dies zu betreiben. Immer wirkmächtigere Waffensysteme werden in die Ukraine geschickt, um die russischen Streitkräfte zu besiegen. Und das führt ein ums andere Mal zu der bangsten aller Fragen: Fordert die NATO damit Putin, den Autokraten einer Nuklearmacht, heraus und riskiert damit, dass er Atomwaffen einsetzt?

Rückblende. In den Wochen vor Kriegsbeginn, als russische Streitkräfte entlang der ukrainischen Grenze stationiert sind und ein Einmarsch in die Ukraine eine verstörende Bedrohung ist, aber eben noch nicht Realität, verteidigt Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock im Bundestag die Position der deutschen Bundesregierung, keine Waffen an die Ukraine zu liefern. Die „militärische Hilfe“, die Berlin nach Kyiv (Kiew) sendet, besteht aus einer Ladung von 5000 Schutzhelmen.

Doch die Bundesregierung warnt bereits damals kryptisch, dass im Falle eines russischen Angriffs „alle Optionen“ auf dem Tisch lägen.

Dann, am 24. Februar 2022, greift Russland die Ukraine an, und wenige Tage später fällt das Tabu der Waffenlieferungen. Die Europäische Union beschließt, eine halbe Milliarde Euro zur Verfügung zu stellen, um die Ukraine mit Rüstungsgütern zu unterstützen. Die Debatte, welche Waffen die EU-Staaten liefern sollen, beginnt.

Erst sind es Handfeuerwaffen, Maschinengewehre, tragbare Luftabwehrraketen, Panzerfäuste, gepanzerte Fahrzeuge. „Schwere Waffen“, Panzer oder gar Kampfflugzeuge stehen zwar auf der Wunschliste der ukrainischen Regierung, doch alle winken ab.Die Herausforderung für die NATO besteht in den darauffolgenden Monaten darin, die Ukraine so gut wie möglich dabei zu unterstützen, sich gegen den russischen Angriff zu verteidigen, dabei aber drei Risiken zu minimieren:

Erstens will die NATO auf keinen Fall selbst zur Kriegspartei werden.

Zweitens soll Putin kein Vorwand dafür geliefert werden, Atomwaffen einzusetzen.

Drittens muss verhindert werden, dass die Ukraine von der NATO gelieferte Waffen dazu benutzt, um ihrerseits Angriffe auf russisches Territorium zu starten.

Wie man sieht, wurden alle Ziele erreicht: die Ukrainer so weit aufgerüstet, dass sie sich erfolgreich verteidigen können, und gleichzeitig alle drei Risiken hintangehalten. Dieser augenscheinliche Erfolg kommt nicht von ungefähr. Die NATO hat ihre Waffenlieferungen, vor allem was die Art der Systeme betrifft, von Anfang an dosiert. Das verschafft ihr die Möglichkeit, die russischen Streitkräfte alle paar Monate vor neue militärische Probleme zu stellen. Selbst die öffentlichen Debatten dienen einem Zweck. Putin muss mitansehen, wie die Bereitschaft, der Ukraine effizientere Waffensysteme zur Verfügung zu stellen, wächst. Diese aufeinander folgenden Eskalationsstufen funktionieren somit ähnlich wie die jeweils verschärften wirtschaftlichen Sanktionsmaßnahmen.

Noch sind die Leopard- und Abrams-Panzer nicht an der Front – und es wird zum Teil noch Monate dauern, ehe sie dort eintreffen -, da muss sich Putin bereits langsam darauf gefasst machen, dass als nächstes Kampfflugzeuge den Ukrainern die Lufthoheit über ihr Territorium verschaffen könnten.

Im Weißen Haus, dem State Department und dem Pentagon, im NATO-Hauptquartier und in den Regierungssitzen aller NATO-Staaten grübeln die kompetentesten Leute, wie die Balance zwischen ausreichender militärischer Stärke der Ukraine und der Zurückhaltung, weitere Trümpfe auszuspielen, gehalten werden kann.

Wie aber ist die NATO der Gefahr ausgewichen, zur Kriegspartei zu werden? Das war einerseits nicht schwierig, weil, wie der österreichische Völkerrechtsexperte Ralph Janik schon bald nach Kriegsausbruch dargelegt hat, Waffenlieferungen keine Kriegsbeteiligung darstellen. Soweit der rechtliche Aspekt, tatsächlich aber versucht Moskau, politisch-medial die Behauptung zu verbreiten, von der NATO de facto angegriffen zu werden. „Natürlich sind die NATO und die USA indirekt in den Konflikt involviert“, sagte Dmitri Peskow, Putins Sprecher, etwa am 10. Jänner dieses Jahres, denn sie würden die Ukraine „mit Waffen, Technologie und Wissen überfluten“.

Prominente wie die Publizistin Alice Schwarzer oder der Schriftsteller Martin Walser warnten im April des vergangenen Jahres Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz in einem offenen Brief davor, „schwere Waffen“ an die Ukraine zu liefern, da dies „Deutschland zur Kriegspartei“ machen könnte.

Doch bislang gelingt es dem Kreml nicht, eine Kriegsbeteiligung der NATO glaubhaft zu machen, denn diese hält sich seit Kriegsbeginn daran, keine eigenen Soldaten einzusetzen. Dies ist das wesentliche Kriterium bei der Frage, wer als Kriegspartei gilt. Als etwa im Koreakrieg (1950 – 1953) sowjetische Kampfflugzeuge des Typs MiG-15 zum Einsatz kamen, leugnete die sowjetische Führung unter Joseph Stalin, dass diese von ihren Soldaten gelenkt würden. Erst lange nach Kriegsende wurde das mehr oder weniger offene Geheimnis, dass es sich tatsächlich um Piloten der UdSSR gehandelt hatte, zur Gewissheit.

Der Westen will es Putin zusehends leichter machen, einzusehen, dass sein Ukraine-Abenteuer scheitern wird.

Während das Kriegsvölkerrecht auf Basis von Regeln und Präzedenzfällen mehr oder weniger eindeutige Urteile zulässt, bleibt die Beantwortung der Frage, was für Putin eine „Provokation“ darstellt, naturgemäß ein Ratespiel.

Als die ukrainischen Streitkräfte vergangenen Herbst in einer spektakulären Gegenoffensive unter anderem die Stadt Cherson zurückeroberten, wurde dies vor allem auf den Einsatz des US-Mehrfachraketenwerfer-Artilleriesystems „Himars“ zurückgeführt. Davor hatte Russlands Außenminister Sergej Lawrow die USA vor der Lieferung genau dieser Waffen an die Ukraine gewarnt. Dies sei „ein ernsthafter Schritt in Richtung einer inakzeptablen Eskalation“, so Lawrow damals. Die „inakzeptable Eskalation“ trat ein, doch nichts geschah.

Schritt für Schritt verschieben die USA und die NATO die Limits des offenbar doch Akzeptablen. Die bisher gelieferten Himars-Raketenwerfer haben eine Reichweite von bis zu 80 Kilometern. Jetzt wird bereits diskutiert, ob die Ukraine mit dem System „Atacms“ ausgestattet werden soll, das eine größere Reichweite aufweist und logistische Ziele weit innerhalb des russischen Territoriums angreifen könnte. Damit würde ein weiteres Tabu fallen.

Steigt das Risiko von mal zu mal? Offenbar verfügen die westlichen Strategen über ausreichend Hinweise darauf, dass die Möglichkeiten Russlands, seinerseits eine Eskalationsstufe zu zünden, begrenzt sind.

Spätestens an diesem Punkt mündet jede Diskussion darüber, wie weit der Westen bei der Bewaffnung gehen soll, in einen düsteren Hinweis: Putin verfügt über Atomwaffen und könnte willens sein, diese einzusetzen. Oder, wie es Dmitri Medwedew, Ex-Präsident und stellvertretender Leiter des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, formulierte: „Die Niederlage einer Atommacht in einem konventionellen Krieg kann den Ausbruch eines Atomkriegs provozieren.“

Es ist unausweichlich, die Gefahr zu bedenken, dass Putin Atomwaffen einsetzen könnte. Er hat diese Option mehrfach kaum verhüllt angesprochen. Allerdings ist es unverantwortlich, nicht sofort hinzuzufügen, dass so gut wie alles dagegenspricht, dass dieser Fall eintritt. Manche Gegner von Waffenlieferungen an die Ukraine missbrauchen die Angst vor einem Atomkrieg, indem sie die militärische Unterstützung der Ukraine als hinreichenden Grund für einen russischen Nuklearschlag darstellen.

Wahr ist, dass Putin durch einen solchen Akt enorm viel verliert, jedoch kaum etwas gewinnen kann. Es ist nicht anzunehmen, dass sich die Ukraine durch eine taktische Atomwaffe in die Knie zwingen ließe, wohl aber würde Putin zum Outlaw der Weltpolitik, und sogar China hätte alle Mühe, ihn nicht gänzlich fallen lassen zu müssen.

Der österreichische Russland-Experte Gerhard Mangott interpretiert Medwedews Drohung eines Atomkriegs mit einem Gegenschluss: Medwedew sage damit indirekt, dass er eine Niederlage Russlands im Ukrainekrieg für möglich halte.

Der Krieg wird wohl bald in eine neue, schrecklich blutige Phase eintreten. Eine russische Offensive dürfte bevorstehen. Doch der Westen hat vorgesorgt, seine Strategie ist transparent und simpel: Die Bewaffnung der Ukraine wird unbeirrt fortgesetzt, qualitativ und quantitativ verstärkt, und eine Selbstbeschränkung nach der anderen fällt.

So soll es Putin zusehends leichter gemacht werden einzusehen, dass sein Ukraine-Abenteuer scheitern wird. Kein schlechter Plan.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur