Robert Treichler
Leitartikel

Robert Treichler: Unsere letzte Antwort

Im schlimmsten Fall müssen wir auf russisches Gas verzichten. Ein Appell.

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Die zweite Woche des Krieges in der Ukraine hat begonnen. Wie viele Zivilisten bereits ihr Leben verloren haben, ist unklar, laut Angaben des ukrainischen Rettungsdienstes waren es bis Mittwoch etwa 2000. Das ist eine schreckliche Bilanz, und es ist zu befürchten, dass die Opferzahl noch stark ansteigen wird, wenn der Kampf um die Städte beginnt. Die 
Geschichte wird Wladimir Putin allein die Verantwortung dafür zuschreiben.

Macht der Westen etwas falsch?

Es war von vornherein ausgeschlossen, dass irgendeine Maßnahme Putin dazu bewegen könnte, den eben begonnenen Krieg sofort wieder zu beenden. Doch der russische Präsident hat drei bittere Rückschläge einstecken müssen.

Der erste ist der Widerstand der ukrainischen Bevölkerung, angeführt von ihrem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Auch wenn dies einen militärischen Sieg der russischen Streitkräfte höchstwahrscheinlich nicht verhindern können wird, so haben sie dennoch 
Putins Prämisse, es gäbe keinen ukrainischen Staat, und die Bevölkerung werde sich umstandslos in die Machtsphäre der Russischen Föderation eingliedern lassen, spektakulär Lügen gestraft.

Zweitens sind die Sanktionen des Westens als Antwort auf den Völkerrechtsbruch Russlands 
bemerkenswert hart. Auch wenn sie keinen unmittelbaren Einfluss auf den Kriegsverlauf haben, so werden sie Putin sehr bald in Schwierigkeiten bringen. Auch er als autoritärer Herrscher muss seiner Bevölkerung erklären, weshalb er einen derartigen wirtschaftlichen Schaden in Kauf nimmt, um eine irreale Gefahr abzuwenden (und dabei Tausende junge Russen in den Tod schickt).

Sind wir zu einem Opfer bereit, das wirklich schmerzt?

Drittens war die Abstimmung der UN-Vollversammlung über die Verurteilung Russlands wegen des Einmarsches in die Ukraine für Putin eine desaströse Niederlage. Mit Russland stimmten lediglich vier – nicht eben besonders einflussreiche – Staaten: Belarus, Nordkorea, Eritrea und Syrien. 35 Staaten, darunter China, enthielten sich der Stimme, und 141 votierten für die Verurteilung. So isoliert war Russland noch nie.

Läuft also alles am Ende auf ein Scheitern von Putins rücksichtslosem Plan hinaus?

Es ist zu hoffen, aber alles andere als sicher. Deshalb muss der Westen den Druck auf Russland aufrechterhalten. Putins monströse Andeutung, notfalls auch Atomwaffen einsetzen zu wollen, beweist, dass er nicht so schnell auf den Pfad der Rationalität zurückkehren wird. Der Intellektuelle und Putin-Kenner Ivan Krastev sagt im profil-Interview in dieser Ausgabe (siehe S. 13), dass er es für möglich hält, dass der russische Präsident taktische Nuklear- oder Thermowaffen einsetzt – um zu zeigen, dass er zu allem bereit ist.

Der Westen – wir – müssen darauf vorbereitet sein. Eine weitere Eskalation dieser Art, die 
Ermordung von Wolodymyr Selenskyj oder eine Ausweitung des Krieges auf andere Staatsgebiete muss mit einer weiteren Verschärfung der Sanktionen beantwortet werden. Besser noch sollten die westlichen Verbündeten bereits jetzt konkret eine solche Drohung aussprechen.

Doch das ist keine diplomatische Pflichtübung, sondern eine weitere Maßnahme in einem Wirtschaftskrieg, zu dem sich die EU, die USA und andere entschlossen haben. Die logische nächste Stufe wäre die Beendigung jeglicher Zahlungen an Russland – und damit das Ende der Öl- und Gaslieferungen.

Es ist die Aufgabe der EU-Regierungschefs – auch der österreichischen Bundesregierung – einen Plan zu entwickeln, wie ein solcher Stopp funktionieren könnte. Er würde im Falle Österreichs Industrie und Haushalte – also uns alle – schwer treffen. Die Vorstellung mag irreal klingen, aber einfach zu sagen, dass dieser Exit nicht möglich sei, ist feige. Man soll den Satz „Koste es, was es wolle“ nicht überstrapazieren, aber ein Krieg gegen ein europäisches Land ist eine Ausnahmesituation, die in ihrer Bedeutung einer Pandemie durchaus gleichkommt.

Werden wir zu Hause warme Pullover tragen müssen? Mit behelfsmäßigen Elektroplatten kochen? Engpässe bei bestimmten Produkten in Kauf nehmen? Industriebetrieben hohe Ausfallszahlungen leisten? Dafür eine Ukraine-Solidaritätssteuer einführen? Alles sehr unangenehm, aber wenn wir den Stephansdom in Blau-Gelb beleuchten, dann sollten wir – in den geschilderten Extremfällen, von denen wir hoffen, dass sie nicht eintreten – auch tatsächlich zu Opfern bereit sein, die uns schmerzen.

Das sind wir der ukrainischen Bevölkerung und ihrem Kampf für Freiheit und Demokratie schuldig.

Mehr Geschichten zum Schwerpunkt "Krieg in der Ukraine" finden Sie in der profil-Ausgabe 10/2022 - hier als E-Paper.

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Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur