Robert Treichler

Robert Treichler: Was täten wir ohne die NATO?

Drei optimistische Lehren aus der Ukraine-Krise.

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Die Ukraine-Krise zehrt an unseren Nerven. Seit November hat Russland Waffen an der Grenze zur Ukraine stationiert, die düstere Aussicht auf einen möglichen Krieg in Europa sorgt für begründete Unruhe und Angst. Noch gibt es keine Entwarnung. Und doch: Inmitten dieser belastenden Situation kann man Lehren ziehen, die optimistisch stimmen. Hier sind drei:

1. Zum Glück ist da immer noch die NATO

Nein, so selbstverständlich ist das nicht. Das westliche Militärbündnis wurde in der jüngeren Vergangenheit schon sehr oft infrage gestellt oder auch totgesagt. „Wer braucht die NATO?“ ist einer der beliebtesten Titel für Meinungskommentare zum Thema globale Sicherheitspolitik. Die Argumente dafür, die NATO für obsolet zu erklären, sind gar nicht mal die schlechtesten. Ihre wichtigsten Ziele zum Zeitpunkt ihrer Gründung im Jahr 1949 seien überholt: Abschreckung sowjetischer Expansionsbestrebungen; Hintanhalten eines nationalistischen Militarismus in Europa; Absichern des westlichen politischen und wirtschaftlichen Systems  ebenda. Oder in den Worten des ersten NATO-Generalsekretärs Lord Ismay: „Die Sowjets raushalten, die Amerikaner drin und die Deutschen unten.“
Der eigentliche militärische Auftrag – die gemeinsame Verteidigung von Mitgliedern, die angegriffen werden – trat längst in den Hintergrund. Die Interventionen der vergangenen drei Jahrzehnte – Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Libyen, Afghanistan – schienen zu belegen, dass das Bündnis auf der Suche nach einer neuen Existenzberechtigung sei.

Russland hatte als Bedrohungsszenario nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem „Ende der Geschichte“ ausgedient.
Zuletzt stellte ein US-Präsident namens Donald Trump die NATO infrage. John Bolton, einer seiner Sicherheitsberater, berichtete, Trump habe intern immer wieder den Wunsch geäußert, aus dem Bündnis auszutreten. Spätestens jetzt wissen wir, dass sicherheitspolitische Strategien erstens einen verdammt großen Zeithorizont erfordern und zweitens besser nicht von Donald Trump entworfen werden sollten.

Russland unter Präsident Wladimir Putin ist eine Gefahr für den Westen – nicht die einzige –, und wenn diese Krise hoffentlich friedlich beigelegt worden sein wird, dann sollten wir den Schrecken des Winters 2021/22 dennoch nicht vergessen. Der Westen braucht ein Militärbündnis, auch wenn es vorübergehend überflüssig erscheinen mag.   

2. Europa funktioniert besser als gedacht

27 Mitgliedstaaten mit 27 unterschiedlichen Interessenlagen in Bezug auf Russland müssen eine gemeinsame Position finden. Das ist so schwierig, wie es klingt, und wir Medien sind ziemlich gut darin, Bruchlinien und Divergenzen aufzuspüren. Etwa die: Manche EU-Staaten wollen die geplante Gas-Pipeline Nord Stream 2, die russisches Gas unter Umgehung der Ukraine nach Europa transportieren soll, von möglichen Sanktionen aussparen. Das gilt für Deutschlands Ampel-Koalition – vor allem für die SPD – und auch für die österreichische Bundesregierung, deren Außenminister Alexander Schallenberg die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 aus einer Sanktionsliste dezidiert ausgenommen wissen wollte. Andere Staaten sehen gerade in der Drohung, das Nord-Stream-2-Projekt abzuwürgen, eine wirkungsvolle Maßnahme gegen Putins Kriegstreiberei.  Dann gab es Gespräche, und plötzlich herrschte Einhelligkeit: Ein Einmarsch in der Ukraine wäre das Ende von Nord Stream 2.

Es wäre falsch, das als Niederlage derer zu interpretieren, die in dieser Frage nachgegeben haben. Das übergeordnete Ziel – die Einigkeit – wurde erreicht. 

3. Putin ist nicht so stark, wie man glauben könnte

Russlands Präsident macht in seinem Land, was er will. Er regiert autokratisch, unbehelligt von jeglicher Opposition, denn eine solche lässt er erst gar nicht zu. Er allein hat das Heft in der Hand, und alle Welt ist dazu verurteilt, abzuwarten, wie Putin sich entscheidet: Invasion oder nicht Invasion, Krieg oder nicht Krieg? Das vermittelt den Eindruck von Stärke und Macht. Umso mehr, als der Langzeitherrscher schon einige Trophäen in seiner Vitrine hat. Tschetschenien, Georgien, Krim.

Tatsächlich aber ist es zunächst Putin, der Angst hat. Er fürchtet eine Transformation der Ukraine in einen zusehends demokratischen Staat, der sich am Modell des Westens orientiert. Hat die Ukraine damit Erfolg und gelingt ihr so der Aufstieg, dann gerät Putins System unter Druck. Das ist der Auslöser für Putins Ängste, nicht ein NATO-Beitritt der Ukraine, für den es keinerlei Anzeichen gibt.

Wie jeder Autokrat hat Putin nur Jasager um sich. Das schwächt Entscheidungsstrukturen und macht fehleranfällig. Die Lage, in die er sich manövriert hat, ist bei genauerer Betrachtung alles andere als beneidenswert. Soll Putin Russland in einen Krieg führen, der auch für sein Land opferreich wäre und vielleicht sehr rasch auch sehr unpopulär? Andererseits: Kann er seine Truppen von der ukrainischen Grenze unverrichteter Dinge wieder abziehen, ohne dass seine wichtigste Forderung – das Versprechen, die Ukraine werde niemals NATO-Mitglied – erfüllt wurde? 

Nein, Putin ist nicht eindrucksvoller Herr der Lage. Ja, Europa und die USA machen vieles richtig. Und: Was täten wir ohne die NATO?

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur