Waffenstillstand in Gaza: Die Euphorie des Augenblicks
Niemand, der einen Funken Menschlichkeit im Leib trägt, kann von diesem Moment unberührt bleiben. Auf dem „Hostage Square“ in Tel Aviv tanzten Donnerstagfrüh die Menschen und sangen „Hava Nagila“ (Lasst uns glücklich sein), bis ein Wolkenbruch sie unter die Zeltdächer trieb. Auch im Gazastreifen feierten die Menschen, trugen einander auf den Schultern und riefen „Allahu Akbar“ (Gott ist groß).
734 Tage nach Kriegsbeginn einigten sich die israelische Regierung und die Hamas-Führung auf einen Waffenstillstandsdeal. Die rund 20 noch lebenden Geiseln sollen aus den Kerkern der Hamas heimkommen, die Leichen weiterer 28 nach Israel überstellt werden. Im Gazastreifen werden die Menschen nicht mehr angsterfüllt den Tag beginnen, weil sie nicht wissen, ob sie und ihre Angehörigen ihn überleben werden.
Erleichterung, Jubel, Dankbarkeit.
Diese Euphorie ist nicht nur verständlich, sie ist wichtig. Sie kann eine neue Atmosphäre schaffen, in der sich in den Köpfen der beiden Völker die Überzeugung festsetzt, dass die Vernichtungsideologie der palästinensischen Hamas und die Vertreibungsideologie israelischer Rechtsextremer in den Abgrund führen. Geschichte kann nicht ungeschehen gemacht werden, ein Neubeginn ist dennoch möglich.
Es liegt noch viel mehr in Trümmern als der völlig zerstörte Gazastreifen.
Noch ist nicht klar, ob der Deal hält, und noch weniger gesichert ist, dass auf dessen „Phase 1“ auch eine „Phase 2“ und damit das endgültige Kriegsende folgt. Es ist damit zu rechnen, dass auf beiden Seiten auch Saboteure am Werk sind.
Dennoch hat die Zuversicht die Oberhand. Trump hat seinen „guten Freund“, Israels Premier Benjamin Netanjahu, dazu genötigt, eine „Phase 1“ zu akzeptieren, deren wesentliche Punkte auch in Waffenstillstandsvorschlägen standen, die Netanjahu bisher abgelehnt hat. Und Trump hat mithilfe arabischer Verbündeter auch die Hamas so sehr unter Druck gesetzt, dass sie nun offenbar bereit ist, die Geiseln freizulassen und darauf zu vertrauen, dass Israel den Krieg nicht wieder aufnimmt.
Wenn nun tatsächlich der Frieden kommt, wird zunächst vor allem das Ausmaß der Schäden zutage treten. Damit ist nicht nur der völlig zerstörte Gazastreifen gemeint. Es liegt noch viel mehr in Trümmern.
Die Beziehungen zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde sind zerbrochen. Netanjahu nennt die palästinensische Verwaltung in einem Atemzug mit der Hamas. Allerdings werden die beiden Seiten sehr bald wieder miteinander kooperieren und wohl auch verhandeln müssen.
Die palästinensische Führung unter Präsident Mahmud Abbas taugt nach Meinung aller Beteiligten nach zwei Jahrzehnten an der Macht und unzähligen Fehltritten nur noch dazu, ihre eigene Nachfolge zu organisieren, indem sie Wahlen ausruft.
Auch Israels Regierung ist am Ende. Die Minister, die jeden – auch den aktuellen – Waffenstillstandsplan ablehnen, behindern alle Anstrengungen, Frieden zu schließen. Gegen Premier Netanjahu bleibt der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) wegen des Verdachts, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben, aufrecht. Ein Friedensdeal ist kein Ersatz für eine Aufarbeitung durch die Justiz. Netanjahu hat durch die von ihm zu verantwortende Kriegsführung international jegliches Vertrauen verloren. Es liegt an Israels Wählerschaft, darüber zu entscheiden, wer das Land in Zukunft lenken soll.
Insgesamt sind Israels Beziehungen mit der Welt am Tiefpunkt angelangt. Die Regierung befindet sich in einem erbitterten Konflikt mit den Vereinten Nationen, steht bei Abstimmungen der Generalversammlung isoliert da und hat ihre europäischen Verbündeten vor den Kopf gestoßen. Am besten illustriert dies die Tatsache, dass Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron zur unerwünschten Person erklärt wurde, während der verurteilte britische Rechtsextremist Tommy Robinson – zum Entsetzen jüdischer Organisationen – von Israels Diaspora-Minister Amichai Chikli eingeladen wurde.
Donald Trumps Prophezeiung, ab sofort werde im gesamten Nahen Osten Frieden einkehren, mag allzu utopisch sein – die Intention ist jedenfalls richtig. Es braucht vernünftige Kräfte auf allen Seiten, die diese Absicht verfolgen. Die palästinensische und die israelische Fahne dürfen nicht länger Ziel von Feindseligkeiten sein. Wer Frieden will, muss beide schwenken.