Gefährliche Nähe, gute Distanz
Die Lage ist ernst, die Zeiten sind schwierig. Viele verlieren ihre Jobs, ihre Aussichten verdüstern sich. Die Sozialsysteme tragen auch nicht mehr, und die Hilflosigkeit der Politik, besonders jener, die immer versprochen hat, sich zu kümmern und es zu richten, dämmert inzwischen sogar den Gutmütigsten unter uns.
Es gibt genügend Gründe zur Klage, aber auch das hilft bekanntlich wenig. Mehr Solidarität? Das Wort wird sparsam verwendet. Solidarität bedeutet viel zu oft ja nur, dass die einen geben, solange sie können, und leer ausgehen, wenn sie dann selber einmal was brauchen. Nennen wir es lieber Zusammenhalt, nein, „Neuer Zusammenhalt“. Das klingt so, als ob wir es diesmal ernst meinen würden. Wir rücken zusammen. Wir sind die Alternative zur „Ellenbogengesellschaft“. Echt?
Nein, natürlich nicht. Das Problem ist ja nicht nur, dass die alten Begriffe durch vielfältigen Missbrauch verbrannt sind – wie die Solidarität, bei der nur moralischer Druck, nicht aber gegenseitiges Unterstützen aufgebaut wurde. Schon die Idee, dass sich Menschen besser verhalten, wenn sie näher zusammenrücken, ist plemplem. Sie widerspricht allen Erfahrungen von Gesellschaften und Individuen.
Einer der Ersten, die darauf hinwiesen, war der gute alte Arthur Schopenhauer. Der Meisterdenker schrieb kluge Sätze wie „Im Reich der Wirklichkeit ist man nie so glücklich wie im Reich der Gedanken“, was, wie ich finde, ganz gut zum Thema passt. Genauer wurde er in seiner Parabel von den Stachelschweinen, also jenen lustigen kleinen Gesellen, die er in seinem 1851 erschienenen Werk „Parerga und Paralipomena“ verewigte. Die Geschichte geht so: Wenn es recht kalt ist draußen, so wie heutzutage, dann haben die Stachelschweinchen den Drang nach Wärme. Weil Mutter Natur aber keine Zentralheizung hat, rücken sie näher zusammen. Autsch!
Was Schopenhauer uns damit sagen will: Stachelschweine sind auch nur Menschen. Kommen sie einander zu nahe, wird es schmerzhaft.
Stachelschweine haben Stacheln, und wenn sie einander zu nahe kommen, dann stechen sie sich. Es wird ihnen zwar wärmer, aber es tut dauernd weh, das ist also keine Lösung. Deshalb gehen sie wieder auf Distanz, jedenfalls so weit, dass noch etwas Wärme da ist und gleichzeitig die Stacheln weit genug weg sind, um nicht mehr zu zwicken. Was Schopenhauer uns damit sagen will: Stachelschweine sind auch nur Menschen. Kommen sie einander zu nahe, wird es schmerzhaft. Der Mensch ist von Natur aus eben nicht so gut, wie er gerne wäre. Es braucht ein kluges System von Nähe und Distanz, Kooperation und Privatsphäre. Denken wir dabei einfach mal an: Familie, Firma, Kolleginnen und Kollegen, Mitfahrende in der Straßenbahn, Nachbarn und den blöden Typen, der neben, hinter und vor uns auf der Straße fährt, die Leute, die sich in der Bahn neben uns setzen und die Schuhe ausziehen, und all diese Spinner, die uns auf den sozialen Kanälen – fast immer anonym – auf die Nerven gehen.
Wir sind Stachelschweine. Privatsphäre, Distanz, das Recht darauf, in Ruhe gelassen zu werden, ist ein elementares Menschenrecht.
Die digitalen Medien reduzieren diese Distanz fast vollständig. Die sozialen Medien zuerst – die übrigens keine „asozialen Medien“ sind, sondern ganz absichtlich unsere psychologische Schwäche, das Bedürfnis, gemocht zu werden, ausnutzen. Wir suchen nach Wärme, nach Zustimmung, und landen dabei ganz woanders. Marshall McLuhan, der großartige kanadische Kulturwissenschafter und Vordenker des Webs und seiner Gefahren, wurde in den 1970er-Jahren nach seiner Idee vom Global Village gefragt. Ob das denn nicht endlich zu einer harmonischen Weltgemeinschaft führen würde. Im Gegenteil, antwortete McLuhan. „Das Global Village ist wie eine Stammesgesellschaft, und in der waren Mord- und Totschlag die beliebteste Sportart.“
Distanz schützt vor Verletzung, sie ermöglicht freie Entscheidungen, die man in Ruhe treffen kann. Respektiert die Abstandsregeln, benehmt euch, verteidigt euren Freiraum und schützt den der anderen.
Der Rest ergibt sich.