Coverstory

Die verlorenen Kinder von Hernals

Sie kommen mit Brandwunden in die Schule, mit blauen Flecken und Spuren sexueller Gewalt. Niemand kann ihnen helfen – beim besten Willen nicht. An einer Schule in Wien-Hernals zeigt sich exemplarisch, wie das System versagt. Und Kinder, die dringend Hilfe bräuchten, alleingelassen werden.

Drucken

Schriftgröße

1. Florian*, der Bub, der nicht essen will und plötzlich verschwindet

September vor vier Jahren: Der zehnjährige Florian*, der mit mehreren Geschwistern aufwächst, ist neu am „Zentrum Inklusiver Schulen“ in der Leopold-Ernst-Gasse in Wien-Hernals. Bald bemerkt seine Direktorin Petra Bauer, dass Florians Stimmung stark schwankt, von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt. Das ist in ihrem Haus, das auf Kinder mit Auffälligkeiten und Behinderungen ausgerichtet ist, nicht ungewöhnlich. Aber Florian scheint auch stark verängstigt zu sein. Was seine Lehrerinnen vor allem stutzig macht: Florian kann nichts in den Mund nehmen, verweigert Essen und Trinken, und wenn die Eltern ihn abholen, macht er in die Hose.

Drei Monate nach Schulbeginn meldet Bauer der Kinder- und Jugendhilfe im Bezirk zum ersten Mal, dass mit dem Kind etwas nicht stimmt. Eine Vertrauenslehrerin wird eingestellt. Sie nimmt sich des Buben an. Auf informellen Kanälen trägt man ihr zu, dass Florians Verhalten bereits in seiner früheren Schule aufgefallen ist. Der Verdacht steht im Raum, der Bub könnte zu Hause körperlicher und sexualisierter Gewalt ausgesetzt sein. Weitere Gefährdungsmeldungen an das Jugendamt folgen.

In den 16 Klassen des „Zentrums Inklusive Schulen“ sitzen Sechs- bis 16-Jährige, viele mit Lernbehinderungen und erhöhtem Förderbedarf. Außerdem verwaltet und betreut Direktorin Bauer 23 Integrationsklassen in Volks- und Mittelschulen und einige Kindergärten in der Umgebung. Bauer ist so etwas wie eine pädagogische Koryphäe für „komplizierte“ Fälle und – wenn man so will – einigen Kummer gewöhnt. Womit sich die 54-Jährige aber nicht abfinden kann: Immer wieder beschleicht Lehrerinnen und Lehrer der schreckliche Verdacht, dass Kinder zu Hause grob vernachlässigt, brutal geschlagen, mit Bügeleisen und Zigaretten gequält oder sexuell missbraucht werden. Sie, die Schulleiterin, geht den Hinweisen nach und zeigt sie dem Jugendamt – wie es ihre Pflicht ist – per Gefährdungsmeldung an. Und dann passiert – nichts. Nicht bloß einmal, sondern viel zu oft.

Schulleiterin Petra Bauer: „Wir haben wirklich Angst um den Buben gehabt.“

Aus den Ferien kommt Florian völlig erschöpft zurück. In der Klasse liegt er apathisch mit dem Kopf am Tisch. Die Schulärztin stellt fest, dass er ausgetrocknet und hungrig ist, doch kann er nichts zu sich nehmen. Seine Mutter ist noch sehr jung und oft verhindert, weil sie angeblich gestürzt, gegen einen Türstock gelaufen oder erkrankt ist. Davon wird das Jugendamt ebenfalls unterrichtet. Und man teilt der Behörde auch mit, dass man selten ein Kind sehe, das unter so großem Schweigedruck des Vaters stehe wie Florian.

Petra Bauer klappert alle möglichen Stellen ab, von der Schulpsychologie bis hin zur Kinder- und Jugendanwaltschaft. Doch ihre Versuche, Hilfe zu holen, laufen ins Leere. In der Corona-Pandemie schließt die Schule die Pforten. Die Vertrauenslehrerin regt ein psychiatrisches Gutachten an. Florian nimmt Medikamente gegen ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung), die ihm der Vater – „immer wieder falsch dosiert“, so Bauer – verabreicht.

Nach den großen Ferien 2020 sperrt die Schule wieder auf. Florian beginnt vor der Direktion zu toben. 20 Minuten lang ist er nicht zu beruhigen. Er hängt sich an die Vertrauenslehrerin und schreit, er wolle bei ihr wohnen „Das war eine der furchtbarsten Situationen in meinem ganzen Berufsleben“, sagt diese. Beim letzten Gespräch fragt er die Vertrauenslehrerin: „Kannst du schweigen?“ Dann beginnt er – ziemlich wirr – zu erzählen. Von Drogen, dem Vater, seiner Angst, dass jemand „etwas“ erfährt. Sie sagt: „Wie soll ich schweigen?“

Wenn das Zuhause kein Zuhause ist

Als nach mehreren Versuchen, eine sogenannte „Helferkonferenz“ zusammenzutrommeln, diese endlich zustande kommt, erscheint nur der Vater. Er entschuldigt seine Frau und erklärt, sie sei ein Heimkind und psychisch instabil. Das Jugendamt leitet eine Kindesabnahme in die Wege. Doch bevor es dazu kommt, stirbt die Mutter unerwartet. Die Polizei deutet der Direktorin gegenüber einen Suizid an. „Das hat uns völlig aus der Bahn geworfen“, sagt Bauer: „Wir haben wirklich Angst um den Buben gehabt.“

Doch das Jugendamt stoppt die Kindesabnahme. Begründung: Die Familie brauche Zeit, um zu trauern. Der Vater verlässt Wien und zieht zurück in sein Elternhaus am Land. Florian wechselt die Schule. Das Jugendamt untersagt Bauer den Kontakt zur neuen Direktorin. Hinter vorgehaltener Hand erfährt sie, dass der Bub mit der sterbenden, im Badezimmer eingesperrten Mutter noch gesprochen haben soll, während der Vater mit den anderen Kindern spazieren gewesen sei, und Florian unter Flashbacks leide. Bauer kann für ihn nichts mehr tun.

Der Bub verschwand zwar von einem Tag auf den anderen aus ihrer Schule, aber nicht aus den Köpfen seiner Lehrerinnen und Lehrer. Das wenige, das Direktorin Bauer danach noch herauskriegen konnte, weiß sie aus Gesprächen mit der neuen Schulleiterin, die sie weder führen hätte müssen, noch dürfen, so sieht es jedenfalls das Jugendamt. „Man hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass ich übertreibe“, sagt Bauer. Inzwischen habe sie – wieder unter der Hand – erfahren, dass Florian in der neuen Schule dasselbe Verhalten zeige wie zuvor in der Leopold-Ernst-Gasse in Wien.

„Wir erleben hier krasse Fälle. Nicht nur bei mir, bei jedem von uns bleiben Kinder übrig, denen wir nicht helfen können, weil wir am System scheitern“, sagt die Schulleiterin: „Kinder, die wir nicht vergessen können.“ Sie haben Vornamen, Nachnamen, Gesichter und kommen aus familiären Verhältnissen, die den Lehrerinnen und Lehrern der Leopold-Ernst-Gasse über die Jahre vertraut geworden sind. profil änderte einige Details, um die Identität der Minderjährigen zu schützen.

Alle platzen aus allen Nähten. Und allen geht es schlecht, auch dem Helfersystem.

Gertrude Bogyi, Gründerin des Krisenzentrums „Boje“

profil fragte bei Bildungsdirektor Heinrich Himmer (SPÖ) sowie bei der Wiener Kinder- und Jugendhilfe (MA 11) nach, was da schiefläuft. Deren Sprecherin Ingrid Pöschmann kann zu einzelnen Causen keine Auskunft geben, sagt aber: „So laufen unsere Prozesse nicht“, und verweist auf das „Beschwerdemanagement“ ihres Hauses: „Wenn eine Schulleiterin mit der zuständigen Regionalstelle nicht zurechtkommt und das meldet, kann sie sicher sein, dass wir dem nachgehen.“

In der Zwei-Millionen-Metropole gibt es rund 12.000 Gefährdungsmeldungen im Jahr, etwa 2000 davon kommen aus Schulen. „Natürlich werden Prioritäten gesetzt: Wo muss man sofort ausrücken, wo brauchen wir die Polizei, wo genügt vorerst ein Telefonat? Aber es bleibt keine Anzeige liegen“, versichert Pöschmann. Sozialarbeiterinnen klärten die Lage im Vieraugengespräch mit Vorgesetzten, willkürliche Abweichungen seien „praktisch ausgeschlossen“: „Wir haben österreichweit die strengsten Standards, reden mit allen Beteiligten, es gibt Hausbesuche, Erhebungen an Schulen und Kindergärten, fachliche Gesprächsrunden. So tasten wir uns heran.“ Quer durch die Stadt sind zudem sechs Schulkooperationsteams im Einsatz. Wien wächst, auch das Personal und das Budget in der Kinder- und Jugendhilfe werden aufgestockt. Reicht das? „Wir erheben laufend den Bedarf. Vorübergehend können Engpässe passieren. Sobald sie sich verfestigen, bauen wir aus“, so Pöschmann.

Jugendamts-Sprecherin Ingrid Pöschmann: „Natürlich werden Prioritäten gesetzt, aber es bleibt keine Anzeige liegen.“

Kaputte Kinder

Zurück in Wien-Hernals, in der Schule von Petra Bauer. Wie passt das zu ihrer Erfahrung, dass Gefährdungsmeldungen im Nichts enden? Florian ist kein Einzelfall. „Wir erleben das immer gleiche Muster“, sagt Bauer. Etwas fällt auf. Am Oberschenkel eines Kindes, das im Rollstuhl sitzt, zeigt sich der Abdruck eines Bügeleisens. Bei einem anderen stechen der Turnlehrerin an den Armen Brandmale von ausgedämpften Zigaretten ins Auge. Ein Bub rollt sich ein und hält die Arme schützend über den Kopf, wenn die Sprache auf seinen Vater kommt. Hinweise verdichten sich. Manchmal kennt man an der Schule auch die Geschwister, und die Pädagoginnen und Pädagogen erhalten von verschiedenen Seiten über Wochen und Monate Einblick in die Verhältnisse zu Hause. Irgendwann merken sie, dass ein Kind sich zu öffnen beginnt. „Wenn dieser sensible Moment aufgeht und es in seinen Worten etwas ausdrückt, sind der nötige Raum und die Zeit, ihm zuzuhören, vorhanden“, sagt Bauer: „Das ist Teil unseres Schulkonzepts.“

Vielleicht komme, so die Direktorin, an ihrer Schule deshalb „einiges mehr ans Licht“ als an anderen Standorten. Genau das werfe man ihr aber vor. „Zuerst zeigen alle Stellen Verständnis und Engagement, bis zu dem Moment, wo sich ein Schalter umlegt. Ab dann sind wir die Bösen, und alle ducken sich weg“, schildert Bauer. Einmal habe eine Sozialarbeiterin des Jugendamts ihr entnervt an den Kopf geworfen: „Warum macht ihr so viele Anzeigen?“ Sie hätte sich im Sinne des Kinderschutzes auch fragen können, warum es in anderen Schulen so wenig sind. Florian ist in der Leopold-Ernst-Gasse ein krasser Fall, aber nicht der einzige, bei dem am Ende ein Kind auf der Strecke bleibt. Auch Mari* bleibt der Direktorin in unauslöschlicher Erinnerung.

2. Mari*, das Mädchen, das fürchtet, zwangsverheiratet zu werden

Die Jugendliche bereitet der Direktorin seit längerer Zeit Sorgen. Mehrmals alarmiert sie deshalb das Jugendamt. Ohne Resonanz. Vor bald drei Jahren, es ist knapp vor Weihnachten, eskaliert die Lage. Das Mädchen soll gegen ihren Willen verheiratet werden. Dieses Mal reagiert das Jugendamt. Mari kommt ins Krisenzentrum. Als sie vor der Schule das Auto ihres Vaters erspäht, gerät sie in Panik. Bauer bittet die Betreuer im Krisenzentrum, die Jugendliche abzuholen. Dafür habe gerade niemand Zeit, wird ihr beschieden. Es werde schon nichts passieren. „Ich stelle sie sicher nicht allein vor die Tür“, antwortet Bauer – und ruft die Polizei. Das Mädchen wird einvernommen und erzählt, dass es zu Hause getreten und eingesperrt werde. Das Protokoll landet beim Jugendamt. „Ab da ist Feuer am Dach“, erinnert sich Bauer. Mari kommt in eine andere Schule. Die Bitte der Direktorin, dass sich das Mädchen zuvor von ihrer Klasse verabschieden darf, verhallt ungehört. Bauer wird jeder weitere Kontakt zu ihrer ehemaligen Schülerin von der Bildungsdirektion untersagt. Auch die Betreuerin vom Verein „Orient Express“, die Bauer zur besseren Einschätzung der Lage an Bord geholt hat, darf nicht mehr zu Mari.

„Das ist einer der Fälle, die uns nicht schlafen lassen“, sagt die Schulleiterin. Zu viel bleibt im Dunkeln. Auch für die anderen Kinder, die zuerst die Panik Maris und dann ihr unerklärliches Wegsein mitbekommen haben. Bis heute fragt sie sich, wie einem Mädchen in Maris Lage am besten geholfen ist. Manchmal habe sie das Gefühl, „in etwas hineinzugeraten, das zu groß für uns ist“. Die Direktorin fühlt sich im Stich gelassen – und „am System gescheitert“. Im Fall von Florian, im Fall von Mari, aber auch im Fall der drei Brüder.

3. Die drei Brüder, die Schweres mit sich herumtragen

In der Leopold-Ernst-Gasse in Wien landen drei Brüder, sechs, sieben und zehn Jahre alt. Vor zwei Jahren zeigt die Schulleiterin – im Fall des Siebenjährigen – eine mutmaßliche Gefährdung an. Die Pädagogen haben Grund zur Annahme, dass der Bub daheim geschlagen wird. Zahlreiche weitere Meldungen folgen. Das Jugendamt schickt eine Erziehungshelferin in die Familie. Der Ältere, ein autistisches Kind, gerät im Sexualkundeunterricht außer sich. Die Vertrauenslehrerin wendet sich ihm zu. Sie protokolliert, der Bub wolle „alleine leben“, sei „genervt von Pornosachen“ und könne beim Anblick eines Kondoms „kotzen“. Er habe „Mama und Papa gesagt, dass ich mit Sex nichts zu tun haben will“. Alpträume plagten ihn, sein Teddy versuche, „das zu stoppen“, es gelinge aber nicht. Vergangenen Herbst wird auch der Jüngste auffällig. Vor Weihnachten vertraut er der Lehrerin an, er habe Angst vor den Ferien. Das Jugendamt will die Erziehungshilfe verstärken. An der Schule steht die Vermutung im Raum, dass die Mutter den Ältesten womöglich missbraucht und die Brüder Zeugen sind. Beide Elternteile sind psychisch belastet. Anfang des Jahres kommen die Geschwister ins Krisenzentrum. Dort ziehen sie ihre Aussagen zwar nicht zurück, verständigen sich aber darauf, zu schweigen, um zu ihren Hasen, Katzen und Kuscheltieren nach Hause zurückkehren zu dürfen. Das Jugendamt trägt der Schule auf, die Gespräche mit den Brüdern einzustellen. Die Direktorin mailt zurück, dass in ihrem Haus „jeder mit jedem redet“.

Auch dieses Drama endet unglücklich. Die Eltern, die Wurzeln am Balkan haben, attackieren die Schule und wähnen sich „als Ausländer“ diskriminiert. Bis zu den großen Ferien bleiben die drei Buben in der Leopold-Ernst-Gasse. Danach wechseln sie die Schule. In den verbleibenden Wochen grüßen sie die Direktorin verschämt, vermeiden aber ein Gespräch. Wieder bleibt für die Schulleiterin etwas Schales, Bitteres zurück. „Welche Lehren sollen wir daraus ziehen? Warum ziehen Jugendamt und Schule nicht an einem Strang?“ Gerade in schwerwiegenden Causen sei die Polizei mitunter der hilfreichste Kooperationspartner, sagt Bauer: „Wenn ich dort anrufe, fühle ich mich ernst genommen. Die Beamten machen ihre Arbeit, bleiben sachlich, sehen aber auch, in welcher Not wir sind.“ Und wenn sie nachfrage, was mit einem Kind los sei, bekomme sie zu hören: „Natürlich wollen Sie das wissen.“ Beim Jugendamt werde sie „wie eine Gegnerin“ behandelt. Mit bisweilen tragischen Folgen.

Zu Beginn des Schuljahrs 2022/23 geht eine kriminelle Tiktok-Challenge um. Sie besteht darin, dass Jugendliche jemanden niederschlagen, die Tat filmen und das Video posten. Ein Schüler, der in Wien-Hernals neu ist, beteiligt sich daran. Dass der Bursche schon zuvor durch exzessive Gewalt aufgefallen ist und eine Therapie hätte machen sollen, weiß in der Leopold-Ernst-Gasse niemand. Das wird erst bekannt, nachdem der Jugendliche einem Flüchtlingskind fast den Schädel zertrümmert hat. Das Opfer landet auf der Intensivstation, Direktorin Bauer forscht den Täter gemeinsam mit der Polizei aus. Sie suspendiert den Jugendlichen und zwei weitere, die zuschauten und nicht die Rettung riefen. Und sie übergibt der Direktion seiner neuen Schule all jene Informationen, die das Jugendamt ihr vorenthalten hat und die sie mühsam selbst zusammengetragen hat, als es für den zusammengeschlagenen Flüchtlingsbuben bereits zu spät war.

4. Andere Schulen, noch mehr Fälle

Andrea Bossler leitet im 20. Wiener Gemeindebezirk eine Sonderschule für 187 Kinder. Die jüngsten sind sechs, die ältesten 17 Jahre alt. Alle brauchen spezielle Förderung. Unterrichtet wird in kleinen Gruppen. Vor einigen Jahren übernimmt Bossler einen siebenjährigen Buben, der seinem gewalttätigen Vater abgenommen wurde und bereits ein Jahr im Krisenzentrum hinter sich hat. Der Bub wird immer auffälliger, geht auch auf Lehrer los. Im vergangenen Dezember, Bossler verkauft am Stand des Lions Club in der Wiener Innenstadt gerade Punsch, läutet ihr Handy. Die Polizei habe den Vater abgeholt, der Bub schlafe bei einer Nachbarin. Bossler bringt eine Gefährdungsmeldung ein. Das Jugendamt hat die Obsorge. Reaktion? „Null.“ Auch sie schildert, dies sei kein Einzelfall: „Wir melden, melden, melden. Es kommt kein Danke. Keine Rückmeldung. Und die Kinder bleiben auf der Strecke.“

Wir melden, melden, melden. Es kommt kein Danke. Keine Rückmeldung. Und die Kinder bleiben auf der Strecke.

Andrea Bossler, Schulleiterin

Eine weitere Direktorin, die anonym bleiben will, war früher als diplomierte Sozialpädagogin in einer betreuten Wohngemeinschaft tätig. Sie kennt also auch „die andere Seite“: „Ich weiß, wie es den Betreuerinnen hier geht. Auch im Jugendamt kommen sie nicht mehr nach.“ Weil in den WGs das Personal knapp ist, blieben Kinder, die eigentlich fremd untergebracht werden sollten, länger in den Familien. In der Kinder- und Jugendspychiatrie das gleiche Bild: „Überall herrscht drückender Mangel, der sich in der Pandemie verschärft hat“, klagt die Schulleiterin. Auch sie hadert mit ungelösten Fällen: „Fragen Sie mich nicht, wann ich das letzte Mal durchgeschlafen habe.“ Da ist zum Beispiel die Siebenjährige, die bei ihrer Pflegemutter lebt, sich ständig selbst befriedigt und fremden Männern auf den Schoß klettert. Eine Gefährdungsmeldung endet damit, dass die Pflegemutter das Kind von der Schule abmeldet. Nun kursiert auch in der neuen Schule die Befürchtung, es werde sexuell missbraucht. „Leider hat die Pflegemutter jetzt noch ein zweites Kind bekommen“, sagt die Direktorin.

Direktorin Martina Dedic: „Manchmal meldet sich sofort jemand, manchmal hört man lange Zeit nichts.“

Die Überlastung spüren alle. Martina Dedic führt eine offene Mittelschule in der bürgerlichen Wiener Josefstadt. 80 Prozent ihrer Schülerinnen und Schüler haben migrantische Wurzeln, in jeder ihrer Klassen sitzen ein, zwei massiv auffällige Kinder, für die sie das Jugendamt einschalten muss. Und dann? „Man schickt eine Gefährdungsmeldung raus. Manchmal meldet sich sofort jemand, manchmal hört man lange Zeit nichts“, sagt sie.

Vor allem Kinder, die sexuelle Gewalt erleben, brauchen lange, bis sie sich jemandem anvertrauen. „In diesen Fällen ist meist viel Manipulation im Spiel, dazu kommt die Scham“, sagt Barbara Breuss, die bis vor Kurzem als Beratungslehrerin arbeitete: „Man muss also ganz genau hinhören und Schlüsse ziehen.“ Oft erzählen die Kinder ihre Geschichten nur verklausuliert. Das bedeutet: Wo Zeit und Aufmerksamkeit fehlen, bleiben Gewalt und Missbrauch im Dunkeln und viele Opfer unentdeckt.

Personalmangel

4400 Wochenstunden – umgerechnet rund 200 Planstellen – entfallen laut Bildungsdirektion Wien auf Beratungslehrkräfte, speziell ausgebildete Pädagoginnen und Pädagogen, die vor allem an Pflichtschulen und Polytechnischen Schulen als Troubleshooter und Schlichter bei Konflikten im Einsatz sind, in Wien außerdem an 13 ausgewählten Gymnasien. Zu ihnen gehörte auch Barbara Breuss. Seit eineinhalb Monaten ist sie im Ruhestand. Der Mangel beherrschte ihren beruflichen Alltag. Er führt dazu, dass suizidale Jugendliche nach einem Tag aus der Psychiatrie entlassen werden, weil dort kein Bett frei ist, dass Buben und Mädchen monatelang in Krisenzentren ausharren, weil ein geeigneter Platz in einer Wohngemeinschaft fehlt. „Es platzen alle aus allen Nähten“, formuliert es Gertrude Bogyi, Gründerin des Kinderkrisenzentrums Boje: „Und allen geht es schlecht, auch dem Helfersystem.“

Maria Grausam ist Schulsozialarbeiterin, eine Berufsgruppe, die es seit 2018 gibt. „Begonnen haben wir mit 20 Leuten, heute sind wir drei Mal so viele und immer noch bei Weitem zu wenig“, sagt sie. Nicht einmal die Hälfte der Wiener Pflichtschulen wird mit Sozialarbeit unterstützt. Der Bedarf schreit zum Himmel. In den vergangenen vier Monaten zählte Grausam 174 Anrufe und Mails von verzweifelten Direktoren: „Von jedem höre ich das Gleiche: Wir sind eine Brennpunktschule, wir brauchen Hilfe.“ In der Pandemie fehlte die Schule als Schutzraum vor allem Kindern, die daheim in Gefahr sind. Als wäre das nicht schlimm genug, sind mittlerweile „alle unsere außerschulischen Kooperationsstellen überstrapaziert“, sagt die Sozialarbeiterin: „Wir kommen manchmal nicht einmal mehr zum Feuerlöschen. Selbst bei Kindesabnahmen wartet man Wochen und Monate auf einen Therapieplatz.“

Nun werden in allen Schulen Kinderschutzkonzepte entwickelt. Wien machte den Anfang. Unter Direktorinnen und Direktoren steigt der Unmut. Bringt das mehr als wieder nur Papierkram, leere Versprechen, ein bisschen Sensibilisierung und am Ende noch mehr Kinder, die dringend Hilfe brauchen und am überlasteten System zerschellen? Hedwig Wölfl, Leiterin des Kinderschutzzentrums Möwe, plädiert dafür, das Anliegen im Blick zu behalten: „Wir kommen nicht weiter, wenn wir aufeinander hinhauen. In Wahrheit haben wir alle das gleiche Problem, dass wir mit zu wenig Personal immer komplexere Fälle zu bewältigen haben und uns die verbindenden Schnittstellen für sinnvolles Zusammenarbeiten fehlen.“ Das gelte auch für die Kinder- und Jugendhilfe. An manchen Schreibtischen stapeln sich Dutzende Fälle, einer schlimmer als der andere. Von „Triage“ ist die Rede. „Da muss man die Fälle mit den Säuglingen zuerst nehmen, wo man fürchten muss, dass sie die nächsten Tage nicht überleben, und kommt zu den 13-Jährigen gar nicht mehr, denen es auch massiv schlecht geht“, sagt eine Insiderin.

HAK-Direktor Jörg Hopfgartner: „Wir können mit unseren Ressourcen ganz gut arbeiten. Aber manche bräuchten sehr viel mehr. Das ist völlig klar.“

Vergleichsweise „paradiesisch“

Wie es anders ginge, kann man an der Handelsschule und Handelsakademie im Arbeiterbezirk Wien-Favoriten sehen. Jörg Hopfgartner hält als Direktor in dem Haus, in dem 1600 Schülerinnen und Schüler aus und ein gehen, die Fäden in der Hand. Von seinen 153 Mitarbeitern stehen 144 als Lehrerinnen und Lehrer in den Klassen. Es gibt vor Ort ein Helfernetzwerk, in das die Bildungsberatung, die Schulpsychologie, das Jugendcoaching und die Schulärztin eingewoben sind. Mit diesen Ressourcen könne er, der Direktor, „ganz gut arbeiten“. Schwere Kindeswohlgefährdungen kommen ihm selten unter, „vielleicht zwei bis vier pro Jahr, wo Gefahr im Verzug ist und wir das Jugendamt informieren“, sagt er. Aber Hopfgartner ist doch bewusst: Die vergleichsweise „paradiesische Lage“, dass auftauchende Probleme mit den verfügbaren Ressourcen zu bewältigen sind, ist nicht zuletzt der traurigen Tatsache geschuldet, dass schwer belastete Kinder es in der Regel gar nicht an seine Schule schaffen. „Manche bräuchten sehr viel mehr. Das ist völlig klar.“

Ein letzter Besuch in der Leopold-Ernst-Gasse bei Schulleiterin Petra Bauer, deren Versuche, zusätzliches Personal an Bord zu holen, bisher ins Leere laufen. Sie wünscht sich „Stellen, die Verantwortung übernehmen, damit wir unseren Bildungsauftrag erfüllen können. Leere Kilometer können wir uns nicht leisten. Die Kinder brauchen unsere Energie.“

Denn sonst ergeht es ihnen vielleicht wie Florian, wie Mari, wie den drei Brüdern – und noch vielen anderen, die alle einen Namen haben und eine Geschichte.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges