Die Bilder aus Gaza „sind viel schlimmer, brutaler und unmenschlicher als die aus den Nazi-Lagern“. Diese Aussage, die den Holocaust in extremer Form relativieren, stammen vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Von einem „Genozid“ spricht er seit Ausbruch des Gazakrieges im Herbst 2023.
Das G-Wort kam aber auch westlichen Politikern wie dem spanischen Premier Pedro Sánchez bereits über die Lippen. So sagte er im Mai 2025, sein Land werde nicht mit einem „genozidalen Staat“ handeln. Viele Staaten in Europa und der Welt gehen mit Israel längst hart ins Gericht.
Österreich steht weiterhin am anderen Ende des Spektrums. Nach wie vor betonen Politiker die besondere „Freundschaft“ zwischen den Ländern, wenn sie sich zum Gazakrieg äußern. Dass Regierungsmitglieder Israel wörtlich einen „Genozid“ vorwerfen könnten, ist undenkbar. Durch die Mittäterschaft am Holocaust trägt Österreich eine besondere Verantwortung für den Staat Israel. Und daraus leitet sich nicht zuletzt auch eine besondere Sensibilität im Umgang mit Völkermordvorwürfen ab.
Und doch ist die Beziehung Österreichs zu Israel in eine neue Phase getreten, wie die Historikerin Helga Embacher einschätzt. Sie forscht an der Universität Salzburg seit Jahrzehnten über Antisemitismus und die österreichisch-israelischen Beziehungen.
Den Übergang in diese neue Phase markiert für die Historikerin jene Erklärung vom 21. Juli, die das sofortige Ende des Gazakrieges fordert. Diese wurde von Außenministerin Beate Meinl-Reisinger gemeinsam mit 19 EU-Ländern, aber auch Großbritannien, Australien und Japan unterfertigt. Die Tatsache, dass Deutschland nicht unter den Unterzeichnern war, akzentuierte die österreichische Position. Es setzte heftige Kritik an Meinl-Reisinger durch die Israelitische Kultusgemeinde (IKG), aber regierungsintern hielt ihre – wohl abgesprochene – Linie.
++ HANDOUT ++ AUSSENMINISTERIN MEINL-REISINGER IN ISRAEL: MEINL-REISINGER / SAAR
Das Ende einer Ära
Außenministerin Meinl-Reisinger mit ihrem israelischen Amtskollegen Gideon Saarin Israel.
Aber welche Phase genau geht mit diesem Brief zu Ende? „Die Zeit der kritiklosen Loyalität“, sagt Embacher. Und diese Phase macht sie stark an der Person Sebastian Kurz fest. 2017 wurde er Bundeskanzler einer Koalition von ÖVP und FPÖ. Bereits als Außenminister besuchte er mehrmals Israel und knüpfte enge Bande zu Regierungschef Benjamin Netanjahu, den er bald einen „väterlichen Freund“ nennen sollte.
Zweckgemeinschaft Kurz-Netanjahu
Die Allianz war nicht nur der Sympathie, sondern auch der Realpolitik geschuldet, analysiert Embacher. Von beiden Seiten. Bei der Angelobung der Regierung 2017 war Kurz sehr daran gelegen, die internationale Ächtung zu vermeiden, der sich Österreich wegen der ÖVP-FPÖ-Regierung im Jahr 2000 ausgesetzt sah. Israel war der Schlüssel dazu. Tatsächlich stufte das Land seine Beziehungen zu Österreich nicht mehr offiziell herunter. Israel verhängte nur eine Kontaktsperre zu FPÖ-Politikern sowie zur parteifreien Außenministerin Karin Kneissl.
Kanzler Kurz besucht „väterlichen Freund“ Premier Netanjahu.
Als Kanzler Kurz Israel 2018 besuchte, erklärte er die Unterstützung Israels zur „Staatsräson“. Als US-Präsident Donald Trump die amerikanische Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem verlegen ließ, nahmen an der Eröffnungsfeier im Mai 2018 aus der EU nur Vertreter von Österreich, Tschechien, Ungarn und Rumänien teil. Aus Sicht der EU sollte der Status Jerusalems als künftige Hauptstadt beider Staaten besser durch Verhandlungen gelöst werden.
Als Österreich den EU-Ratsvorsitz in der zweiten Hälfte 2018 übernahm, zeigte sich Kurz gegenüber Netanjahu äußerst loyal. Mit Ungarn verhinderte Österreich 2020 eine gemeinsame EU-Resolution gegen Israels Plan einer Annexion von etwa 30 Prozent des Westjordanlands. „Bundeskanzler Kurz brach auch mit den bisherigen Gepflogenheiten, den Besuch in Israel mit einem Treffen mit Vertretern der palästinensischen Regierung in Ramallah zu verbinden“, sagt Embacher.
forscht an der Uni Salzburg über Antisemitismus und das Verhältnis von Österreich zu Israel.
Selbst die vielen „Einzelfälle“ mit Bezug zur FPÖ, wie die Affäre um Bücher mit NS-verherrlichenden Liedern in einer Burschenschaft, konnten diesem engen Verhältnis zwischen Kurz und Netanjahu nichts anhaben. „Die Beziehung zwischen Israel und Österreich ab 2017 waren auch deswegen entspannter als im Jahr 2000, weil Israel selbst nach rechts gerückt war und die FPÖ unter ihrem Parteichef Heinz-Christian Strache einen abrupten Positionswechsel von einer antizionistischen hin zu einer völlig unkritischen proisraelischen Haltung vollzogen hat“, sagt Embacher.
Von Kreisky über Waldheim bis Haider
2000 zog Israel seinen Botschafter noch ab – aus Protest gegen die Regierungsbeteiligung der Haider-FPÖ. Dasselbe war zuvor in der Waldheim-Krise 1986 geschehen.
ARCHIVBILD ZU 5 JAHRE SCHWARZ-BLAUE REGIERUNG: HAIDER/SCHUESSEL IM PORSCHE
Schüssel und Haider
Als die ÖVP unter Wolfgang Schüssel im Jahr 2000 eine Koalition mit der Haider-FPÖ einging, zog Israel seinen Botschafter ab.
Der ÖVP-Kandidat für das Präsidentenamt hatte seine Zeit als Wehrmachtsoffizier am Balkan und in Griechenland verschwiegen, wo er in Einheiten diente, die Kriegsverbrechen begangen haben. Waldheim wurde Präsident, die Beziehungen blieben frostig – bis zu seinem Abgang 1992.
Die Waldheim-Affäre 1986 markierte einen Tiefpunkt der Beziehungen.
Und auch die gesamte Kanzlerschaft des Sozialdemokraten Bruno Kreisky (1970 bis 1983), der selbst jüdische Wurzeln hatte, war geprägt von Konflikten mit Israel, die sich in erster Linie an seiner Person entzündeten. Kreisky war Fürsprecher der Palästinenser und einer Zweistaatenlösung. 1979 empfing er als erster westlicher Regierungschef PLO-Chef Jassir Arafat offiziell in Wien. Er erkannte die – zuvor auch terroristisch agierende – Befreiungsorganisation PLO damit auch als offizielle Vertretung der Palästinenser an. Die immer rigidere Sicherheitspolitik Israels unter Premier Menachem Begin bezeichnete Kreisky 1978 als „Polizeistaat“.
Österreichs Bundeskanzler Bruno Kreisky mit PLO-Chef Jassir Arafat 1986 in Wien: kritisch zu Israel, herzlich zur PLO.
So groß die Distanz unter Kreisky war, so nah kam man sich wieder ab 2017. Und dafür sorgten nicht nur Kurz, sondern auch Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) und Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) sowie der ÖVP-Abgeordnete Martin Engelberg. Kurz, Sobotka und Engelberg sind mittlerweile aus der Politik ausgeschieden.
Kurz setzt die engen Beziehungen zu Israel als Geschäftsmann fort. Edtstadler ist Salzburger Landeshauptfrau. Sobotka kritisierte Meinl-Reisinger für ihre Unterschrift unter die Erklärung an Israel sogar noch aus der Politik-Pension. In der Regierungsriege von ÖVP-Bundeskanzler Christian Stocker sind keine so prononciert proisraelischen Politiker mehr vertreten. Auch das mag hinter der neuen Nüchternheit stecken. Sie ist aber vor allem der Eskalation in Gaza geschuldet, die Stimmungen in der Bevölkerung ändert und von der Politik eine differenziertere Position einfordert.
War die fast bedingungslose Loyalität der Kurz-Jahre, die nun zu Ende geht, ein Fehler? „Ja. Gerade wenn man mit Israel befreundet ist, muss man auch Kritik üben“, sagt Embacher. Und dafür lieferte Israel im Gazakrieg zuletzt immer mehr Anlässe.
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.