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Welche Zukunft hat Gaza, Herr Gerlach?

Nahostexperte Daniel Gerlach kennt die arabische Welt wie kein anderer. Mit profil sprach er darüber, wie Europa mit Gazas humanitärer Katastrophe umgehen sollte.

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Seit 21 Monaten tobt Krieg im Gazastreifen. Ist Israels Vorgehen noch verhältnismäßig?

Daniel Gerlach

Ich denke nicht, dass Verhältnismäßigkeit das Ziel war. Das militärische Vorgehen der Regierung Netanjahu ging weit über die erklärten Kriegsziele, die Geiseln zu befreien und die militärischen Fähigkeiten der Hamas zu zerstören, hinaus.

Welches eigentliche Kriegsziel sehen Sie?

Gerlach

Es ging auch darum, Rache zu nehmen und für alle Zeiten an Israels Feinden ein Exempel zu statuieren. Wer der Regierung genau zugehört hat, konnte das auch vernehmen. Gewisse Kontrollmechanismen zum Schutz von Zivilbevölkerung und Verhältnismäßigkeit wurden in Reaktion auf den 7. Oktober außer Kraft gesetzt. Vorher wog man tendenziell ab – auch durch Juristen –, ob etwa ein Luftschlag das Leben Unschuldiger gefährdet, wozu auch Familien von Hamas-Kämpfern gehörten. Etwas verkürzt gesagt, spielte das keine Rolle mehr.

Immer wieder sterben Palästinenser bei der Verteilung von Hilfsgütern. Von 800 Toten spricht die UNO bereits. Wie kommt es dazu?

Gerlach

Ich bin nicht vor Ort und kann nur die Berichte lesen und mit Betroffenen sprechen. Menschen strömen in Massen zu den Konvois und Verteilungszentren, um an Lebensmittel zu gelangen. Israelische Soldaten fühlen sich bedroht und kommunizieren mit Schusswaffen. Sie geben also entweder Warnschüsse ab oder sie schießen auf die Leute, um sie zu stoppen. Manche feuern wohl auch aus purem Hass oder Langeweile auf die Menschen. So berichtet es (die israelische Zeitung, Anm.) „Haaretz“, die mehrere Beteiligte interviewt hat. Und es scheint so, zumindest berichtet „Haaretz“ es so, dass das von der Hierarchie auch nicht wirklich geahndet oder unterbunden wird.

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Daniel Gerlach, 48,

ist deutscher Nahostexperte. Er studierte Orientalistik und Geschichte an den Universitäten Hamburg und Paris IV Sorbonne und verfasste mehrere Bücher über die Region. Gerlach ist Direktor des Berliner Thinktanks Candid Foundation und Chefredakteur der Nahost-Fachzeitschrift „zenith“, die er 1999 mit Studienkollegen der Islamwissenschaften gegründet hat.

Bisher war es so, dass die UN die Verteilung der meisten Güter organisiert hat.

Gerlach

Humanitäre Hilfe darf nicht eingesetzt werden, um politische oder militärische Ziele zu erreichen. Normalerweise gibt es UN-Organisationen, die neutral vorgehen und Personal vor Ort stellen, das unbewaffnet ist. Das verhindert eine solche Dynamik. Durch die wachsende Not im Gazastreifen verstärkt sich aber auch die Risikobereitschaft der hungernden Menschen, sich Soldaten zu nähern. Sie haben nichts zu verlieren.

Die neuen Verteilungszentren werden von der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) geführt, einer US-Privatorganisation mit Sitz in der Schweiz. Was hat es damit auf sich?

Gerlach

Abgesehen von den politischen Aspekten finde ich es fahrlässig, dass man in einer so akuten und massiven Notlage mit neuen Modellen experimentiert. Wir wissen, dass so etwas auch in Friedenszeiten kompliziert ist und oft scheitert. Darüber hinaus nutzt die israelische Regierung die GHF, um humanitäre Hilfe mit politischen und militärischen Zielen zu verknüpfen. Langfristig möchte man so auch das (UN-Palästinenserhilfswerk, Anm.) UNRWA schwächen. Die israelische Rechte bekämpft die UNRWA seit Langem. Da sie neben Gaza und der Westbank auch für Palästinenser im Libanon, Syrien und Jordanien zuständig ist, meint man, dass sie das palästinensische Flüchtlingsproblem in der Region insgesamt am Leben erhält. Ohne die UNRWA würde der internationale Druck auf Israel abnehmen und die Palästinenser in den Nachbarstaaten assimiliert werden, so der Gedankengang.

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Verzweiflung und Kontrollverlust

Laut UNO starben in der Nähe von GHF-Verteilungszentren seit Mai über 800 Palästinenser: "Manche (israelische Soldaten, Anm.) feuern wohl auch aus purem Hass oder Langeweile auf die Menschen."

Was passiert in Gaza?

Die radikalislamische Hamas tötete bei ihrem Angriff auf Südisrael am 7. Oktober 2023 über 1200 Menschen und verschleppte mehr als 200 Geiseln. Israel rückte daraufhin in den Gazastreifen vor. Laut Zahlen des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums wurden fast 60.000 Palästinenser, über zwei Prozent der Vorkriegsbevölkerung Gazas, getötet (Stand 24. Juli). Mehr als 80 Prozent des Gazastreifens gelten als zerstört. Laut UNO-Angaben starben in der Nähe von GHF-Verteilungszentren seit Mai über 800 Palästinenser. Später erhöhte die UNO die Todeszahlen auf 1.000 Menschen (Stand 25. Juli).

Israel wirft der UNRWA aber auch vor, dass sich Mitarbeiter an Massakern an Israelis am 7. Oktober beteiligt haben.

Gerlach

Das stimmt. Laut einer Untersuchung der UNRWA, die ich für glaubwürdig halte, handelt es sich um 19 der damals rund 10.000 UNRWA-Beschäftigten im Gazastreifen. Daraus kann man sicher keine Verwicklung der Organisation in den 7. Oktober ableiten. Mehrere Hundert UNRWA-Leute, die damit nichts zu tun hatten, wurden im Übrigen bei israelischen Angriffen getötet.

Warum gelangen generell so wenig Hilfsgüter nach Gaza?

Gerlach

Offiziell argumentiert die israelische Seite einerseits mit logistischen Problemen, andererseits damit, dass die Hamas Hilfsgüter abzweige. Im innenpolitischen Diskurs wiederum hört man, die Palästinenser in Gaza können so lange nicht versorgt werden, bis die Geiseln freigelassen sind. Das ist im Kern eine Belagerungstaktik: Man hungert den Gegner aus, bis der Druck von innen so groß wird, dass er sich ergibt. Diese Art der Kriegsführung wird international kritisiert, im Nahen Osten aber häufig angewandt.

Wo noch?

Gerlach

Etwa im Syrienkrieg. Dort wurden aufständische Viertel von Damaskus, Aleppo oder Homs eingekreist und belagert. Zugang zu humanitärer Hilfe wurde nur auf großen internationalen Druck und in Ausnahmen gewährt. Wurden Hilfskonvois beschossen oder geplündert, hieß es, die Rebellen hätten das getan, um sich an der notleidenden Bevölkerung schadlos zu halten.

Raphael  Bossniak

Raphael Bossniak

seit Juli 2025 im Außenpolitik-Ressort. Davor freier Journalist für APA, Kurier und die deutsche Nahostfachzeitschrift zenith. Schwerpunkt Nahost / Kaukasus / Osteuropa.

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.