Dschihadisten-Aussteigerprogramm: Bevor es zu spät ist

Österreich hat endlich ein Aussteigerprogramm für Dschihadisten. Ein erster Einblick.

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Vor zwei Wochen beschrieb profil auf Basis von Ermittlungsakten das Netzwerk des islamistischen Attentäters Kujtim F. Die zentrale Erkenntnis: Seine Freunde waren viel näher und viel länger an ihm dran als vermutet - nämlich bis kurz vor dem Anschlag in der Wiener Innenstadt am 2. November 2020. Die neuen Details zeigen auch eindringlich, welchen Kraftakt es benötigt, solche Attentate zu verhindern.

Ein neuer Ansatz dazu ist das Aussteigerprogramm "Kompass". Seit Jahren in Planung, ist es vor einem Monat endlich angelaufen. Im Unterschied zur klassischen Bewährungshilfe ist die Teilnahme freiwillig. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BVT) nominiert Kandidaten, die Sozialarbeiter vom Bewährungshilfe-Verein Neustart suchen diese auf und klären ab, ob eine Zusammenarbeit sinnvoll erscheint. "Entscheidend ist die Anfangsmotivation", sagt Kompass-Leiter Spiros Papadopoulos. "Wir konzentrieren uns auf junge Menschen, die Bereitschaft signalisieren, sich zu ändern. Für ideologisch verfestigte Hassprediger taugt das Programm nicht." Vertrauen aufzubauen, sei extrem schwer. "Am Anfang glauben die Kandidaten, wir sind Zivilpolizisten", sagt Papadopoulos. Doch die Bewährungshelfer schicken bloß monatliche Statusmeldungen über den beruflichen und privaten Fortschritt an den Verfassungsschutz.

Wer sind die ersten potenziellen Dschihad-Aussteiger? Mit biografischen Details halten sich die Sozialarbeiter im profil-Gespräch extrem zurück. Die Aussteiger sollen sich keinesfalls wiedererkennen. So viel verraten sie: Aus dem Umfeld von Kujtim F. ist derzeit keine Person bei Kompass. Elf Jugendliche und junge Erwachsene sind im Moment in dem Programm, darunter drei Frauen. Neun saßen bereits wegen eines Vergehens nach dem Terrorismusparagrafen 278 in Haft. Zwei sind noch unbescholten und gerieten durch ihre Kontakte zu islamistischen Netzwerken ins Visier der Verfassungsschützer. Solche Personen noch rechtzeitig abzufangen, zählt zu den zentralen Aufgaben von Kompass.

Zwei bis drei Kontakte pro Woche sind die Regel, bei der klassischen Bewährungshilfe sind es nur drei Kontakte im Monat. "Es geht nicht nur darum, bei der Jobsuche oder bei Behördenwegen zu helfen. Im Zentrum der Gespräche steht die Frage: Warum sind die Klienten dort, wo sie sind. An welchen Punkten in der Biografie rutschten sie in die islamistische Szene ab", erklärt Papadopoulos.

"Ich war die erste Österreicherin, die jemals ihr tschetschenisches Heim betreten hat"

Angesiedelt ist das Projekt neben Wien auch in St. Pölten, Linz und Graz. Die Grazer Sozialarbeiterin Katrin Koller ist eine von zwölf Mitarbeiterinnen. Sie will in die Lebenswelten der Klienten eindringen und trifft sie auch im Park, im Café oder zu Hause. Dazwischen hält sie über das Smartphone Kontakt. "Wenn wir um sieben Uhr abends eine WhatsApp-Nachricht bekommen, antworten wir." Koller nennt es "professionelle Freundschaft". Vor Kompass habe sie eine junge Tschetschenin betreut, die zum Islamischen Staat in Syrien ausreisen wollte und nun vorbestraft sei. "Ich war die erste Österreicherin, die jemals ihr tschetschenisches Heim betreten hat", beschreibt Koller die Isolation mancher Muslimas. "Über eine Telegram-Chat-Gruppe durchbrach das Mädchen die Einsamkeit und häusliche Kontrolle, kam jedoch in Kontakt mit radikalem Gedankengut."

"Wir müssen rechtzeitig sagen: Es gibt ein Leben vor dem Heldentod"

Bei Burschen stehe oft die Schwäche des Vaters am Anfang einer radikalen Karriere, meint Neustart-Sprecher Andreas Zembaty. "Sie schlüpfen in die Vaterrolle und kontrollieren ihre Mütter und Schwestern mit aufgeblähtem Macho-Gehabe. In Wirklichkeit sind sie jedoch zutiefst verunsichert. Das nutzen islamistische Überväter aus, die ihnen erst Halt geben und dann erklären, warum sie im Diesseits keine Chance haben. Wir müssen rechtzeitig sagen: Es gibt ein Leben vor dem Heldentod."

Mit höchstens 16 Teilnehmern und einem Budget von 400.000 Euro ist Kompass im Vergleich zu ähnlichen Programmen in Deutschland klein dimensioniert. Im Nachbarland haben Aussteigerprogramme für Rechtsextreme, die für Dschihadisten adaptiert wurden, lange Tradition. Kompass läuft bis Mitte 2022. Ob es fortgesetzt und auch für Rechtsextreme ausgebaut wird, hängt von der Erfolgsquote ab. Viele Nachwuchs-Dschihadisten werden sich auf Kompass erst gar nicht einlassen. Abgesehen von der Hürde der Freiwilligkeit steht dem Team eine weitere große Herausforderung bevor: "Aus Deutschland wissen wir, dass es zu massiven Rückgewinnungsaktionen kommen kann, sobald sich Personen aus der radikalen Szene zurückziehen", schildert Zembaty. "Dann wird angeklopft und gefragt:, Warum kommst du nicht mehr in die Moschee? Was triffst du da für Leute?'" - Dann heiße es: "Dranbleiben."

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.