„Als die ersten falschen Polizisten aufgetaucht sind“, sagt ein Ermittler zu profil, „dachten wir, das Problem verschwindet so schnell wieder, wie es gekommen ist.“ Ein Irrtum, wie sich herausstellte. Seit 1. Jänner 2022 wurden allein in Österreich Schäden von 23 Millionen Euro registriert. Mittlerweile befasst sich die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKSta) mit den hinterhältigen Betrügerbanden. Die Opfer: meist ältere Frauen mit bürgerlich klingenden Namen in gehobenen Wohngegenden, die auf ein gut situiertes Umfeld schließen lassen. Eine von ihnen: Gerlinde S.
Ein halbes Kilo Gold
Es ist fast 21 Uhr; das Telefonat zwischen Gerlinde und „Kommissar Reinhold“ dauert inzwischen mehr als eine Stunde. Ihr Mann Bernhard S., 84, steht während des Gesprächs die ganze Zeit aufgeregt neben ihr. In seinem Kopf spalten sich die Ungereimtheiten. „Da stimmt etwas nicht“, murmelt er, fast beschwörend, immer wieder, als wolle er seine Frau zur Besinnung rufen. Währenddessen beginnt Gerlinde, ihr Hab und Gut zusammenzutragen, auf Anweisung des angeblichen Kommissars. Da sie zu Hause nicht genügend Bargeld hat und die Banken bereits geschlossen sind, schlägt Kommissar Reinhold vor, Gerlinde solle ihren Goldschmuck sammeln, um den Wert schätzen zu lassen – quasi als Pfand, bis das Geld beschafft sei. Ein Sachbearbeiter eines Notariats könne sofort vorbeikommen und die Wertsachen abholen; er müsse nur wissen, welche Stücke vorhanden sind. Das Geld soll sie am nächsten Tag überweisen, im Gegenzug würde sie ihren Schmuck zurückbekommen. Und der Kommissar hat noch eine Bitte: Nur Gold und Schmuck solle sie zusammensuchen – kein Silber. Alles andere würde die Abwicklung komplizieren.
Erbstücke. Geschenke. Erinnerungen. Über die Jahre ist einiges zusammengekommen, und vor Gerlinde liegt eine kleine Schatzkiste: elf Golddukaten, vier Vierfachdukaten, drei Goldmünzen, fünf Halsketten, dazu mehrere Anhänger, ein Armband, 13 Ringe, teils besetzt mit Saphiren, Smaragden und Brillanten, und eine Cartier-Uhr. Das geht aus dem Akt hervor. Exakt 595 Gramm – Kommissar Reinhold lässt die 75-Jährige ihre Wertsachen mit der Küchenwaage abwiegen, bevor er den angeblichen Sachbearbeiter zu ihr nach Hause schickt – wiegt der Betrug, den Gerlinde zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkennt. Gesamtwert: bis zu 100.000 Euro.
„Herr Nowak“
Aus Sorge, Bernhard S. könnte seiner Frau das Vorhaben im letzten Moment ausreden, hat Kommissar Reinhold vorgesorgt. Er schlägt vor, der 84-Jährige solle direkt zum Landesgericht fahren, um dort seinen Sohn abzuholen. Ein Taxi sei bereits bestellt, es werde in wenigen Minuten vor dem Haus des Ehepaars eintreffen und ihn direkt zum Gerichtsgebäude bringen. Dort warte ein Beamter auf ihn. Als das Ehepaar wenige Minuten später aus dem Fenster blickt, steht tatsächlich ein Taxi-Kombi vor dem Haus, das gelbe Dachschild leuchtet grell in der Dunkelheit. Bernhard S. scheint seine Zweifel begraben zu haben. Das Taxi ist von einem Polizisten bestellt. Ziel: Landesgericht Salzburg, Rudolfsplatz 2. Das bestätigt ihm der Taxifahrer, der selbst Opfer dieses Lügenkonstrukts wurde.
Während sich der 84-Jährige auf den Weg macht, um seinen Sohn abzuholen, schickt Kommissar Reinhold den angeblichen Sachbearbeiter „Herrn Nowak“ zu Gerlinde. Sie solle vor die Tür gehen, er werde auf der Straße auf sie warten. Gerlinde tritt hinaus, den beigen Beutel fest umklammert, gefüllt mit rund einem halben Kilo Gold. Sie irrt einen Moment unsicher umher, bis sie plötzlich vor einem hochgewachsenen Mann steht. Jeans, Pullover, eine tief ins Gesicht gezogene Kappe; in der Hand eine brennende Zigarette.
„Herr Nowak?“, fragt sie zögernd. Dieser antwortet nur mit den Worten „muss abholen“. Keine Erklärung, kein Lächeln, nur die Zigarette glimmt in der Nacht. Zum ersten Mal spürt Gerlinde instinktiv, dass an der ganzen Sache etwas nicht stimmt. Wortlos übergibt sie den Beutel, der Mann greift zu, wendet sich um und verschwindet zwischen den dunklen Häusern. Für einen Moment bleibt die Stille. Was geschehen wäre, hätte sie versucht zu fliehen, kann sie sich nur vorstellen. Zur selben Zeit muss ihr Mann Bernhard feststellen, dass er an diesem Abend im Gerichtsgebäude niemanden mehr antreffen wird.
Es ist kurz vor Mitternacht, als Gerlinde und Bernhard S. auf der Polizeidirektion in Salzburg sitzen. Sie erstatten Anzeige gegen Männer, die, wie sie nun erfahren müssen, Teil einer skrupellosen Betrügerbande sind, die mit einer besonders perfiden Masche gezielt Pensionistinnen und Pensionisten ins Visier nimmt, um sie um ihr Erspartes zu bringen. Anwesend ist auch ihr angeblich inhaftierter Sohn, der die ganze Geschichte an diesem Abend zum ersten Mal hört.
Im Fall von Gerlinde und Bernhard S. gehen die Behörden davon aus, dass das zuständige Callcenter in Tschechien stationiert war. Als Drahtzieher gelten ein Tscheche namens Pavel V. und ein Amerikaner namens Daniel R. Pavel V. sei 2024 sogar selbst als „Abholer“ in Wien tätig gewesen – jener Mann also, der wie in Gerlindes Fall als angeblicher „Herr Nowak“ vor der Haustür erschien und die Beute entgegennahm.
Die Arbeitsteilung innerhalb der Gruppen ist exakt geregelt: Einige telefonieren, andere holen die Beute ab, wiederum andere, die sogenannten Logistiker, sorgen dafür, dass Schmuck und Geldscheine verschwinden, bevor Spuren zurückbleiben. Die meisten Anrufe nach Österreich stammen nach Erkenntnissen der Ermittler aus Tschechien, Polen und der Türkei. Ende September berichtete die Tageszeitung „Der Standard“ über eine Villa in Istanbul, die als Callcenter diente. Kopf des Netzwerks soll ein 35-jähriger Mann sein, in Dornbirn geboren, türkischer Pass, in der Szene als „Euro-Mehmet“ bekannt. Er wurde inzwischen festgenommen und ist in Istanbul in Haft. Am 20. Jänner wird sein Prozess fortgesetzt. In Österreich drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft, in der Türkei drei Jahre pro Tat. Bei 119 Fällen wären das 357 Jahre.
„Callcenter“ in Wien ausgeforscht
Auch in Österreich beginnt am Montag am Wiener Landesgericht ein Verfahren gegen einen mutmaßlichen Betrüger. Insgesamt wurden hierzulande bislang gegen 19 Personen Anklagen erhoben, 18 wurden bereits verurteilt. Gegen 14 weitere wird ermittelt; zwei sitzen in Untersuchungshaft, einer in Wien, ein weiterer wartet in der Schweiz auf seine Auslieferung.
Am selben Tag, an dem die 75-jährige Gerlinde S. den Anruf des angeblichen Kommissars erhielt, gelingt den Ermittlern in Wien ein Durchbruch. Sie heben erstmals ein „Callcenter“ aus, das direkt von Österreich aus betrieben wurde. In einer Wohnung im 22. Bezirk, in Wien-Donaustadt, nehmen sie einen Mann fest; dort stoßen sie auf zahlreiche Telefone und deutliche Hinweise darauf, dass mehrere Personen über längere Zeit in der Wohnung gelebt haben. Die Ermittler gehen davon aus, dass die von hier getätigten Anrufe ausschließlich ins Ausland gingen – bevorzugt nach Deutschland und in die Schweiz. Bewusst über Ländergrenzen hinweg, um die Fahndung zu erschweren. Ob Pavel V. und Daniel R. mit dem „Callcenter“ in Wien in Verbindung stehen, ist Gegenstand von Ermittlungen.
Martin Ortner, Sprecher der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, richtet eindringlich einen Appell an potenzielle Opfer: „Niemals ruft das Gericht, die Staatsanwaltschaft oder die Polizei an und schickt jemanden vorbei, um Geld oder Vermögenswerte abzuholen.“ Viele Täter würden ihre Daten über das Telefonverzeichnis von Herold beziehen, die nach der Digitalisierung öffentlich im Netz zugänglich sind – vielen Betroffenen sei das gar nicht bewusst. Wer seine Nummer dauerhaft löschen lassen möchte, müsse sich an den jeweiligen Telefonanbieter wenden; Herold übernimmt die Löschung anschließend.
Für Gerlinde S. kommt diese Warnung allerdings zu spät.