Gastarbeiter aus Rumänien: Experte sieht „Aufstand der Ausgebeuteten“
Jedes zweite Kind in Rumänien hat einen Elternteil, der zeitweise im Ausland gearbeitet hat. Herr Cosma, was macht die Migration mit dem Land?
Valer Simion Cosma
Viele glauben, Arbeitsmigration sei ein neues Phänomen nach dem EU-Beitritt. Aber schon im 19. Jahrhundert gingen Bauern für ein paar Monate in andere Regionen, um auf den Feldern zu arbeiten. Meine Mutter und auch mein Vater waren in den 1990ern weit weg von unserem Dorf, um in der Landwirtschaft zu arbeiten. Als Putzfrau und als Forstarbeiter. Diese Erfahrung von Abwesenheit – dass Elternteile monatelang weg sind – und auch sehr harte saisonale Jobs gehören zu vielen rumänischen Familiengeschichten. Deshalb fiel es vielen nach 2004 leicht, nach Spanien, Italien oder Österreich zu gehen: Die Leute hatten die Kompetenzen und wussten, dass sie damit in den westlichen EU-Ländern mehr Geld als in ihren Herkunftsländern verdienen könnten.
Was bedeutet die massive Migration für Rumänien selbst?
Cosma
Sie hinterlässt tiefe Spuren. Es gibt Dörfer, in denen nur noch wenige alte Menschen leben – keine Schule, keine Priester, keine Zukunft. Die Rücküberweisungen aus dem Ausland finanzieren zwar Häuser und Autos, gleichzeitig fehlen die Menschen im Land und in Krankenhäusern, in Schulen, in Betrieben. Rumänien erlebt einen Braindrain, nicht nur bei Akademikern, sondern auch bei Facharbeitern. Ganze Regionen kollabieren.
Was treibt die Menschen an, wegzugehen, wer sind sie?
Cosma
Vor allem Menschen aus armen, bäuerlichen Familien. Sie sind harte Arbeit gewohnt, auch miserable Wohnbedingungen. Wenn man sie in ein Zimmer steckt, in dem es immerhin eine Toilette gibt, empfinden sie das als Luxus. Hauptanreiz ist das Geld. Über wenige Jahre Saisonarbeit kann man sich ein Haus bauen, durch Arbeit in Rumänien bräuchte man dafür Jahrzehnte – oder würde es nie schaffen. Die Ausreise wurde für junge Männer zu einer Art Ritual, erwachsen zu sein – früher war das der Militärdienst, heute ist es ein Job in Spanien, Deutschland oder Österreich. Wer eine Familie gründen wollte, musste zeigen, dass er im Ausland oder zuhause Geld verdienen kann.
Migration aus Rumänien
Laut einer Studie der Organisation ‚Save the Children Rumänien‘ arbeiteten die Elternteile von zwei von drei Kindern, die von der Organisation betreut wurden, im Ausland. Österreich ist nach Italien und Spanien das Zielland von 12 Prozent der Frauen.
In Österreich prägen Pflegerinnen aus Rumänien das Bild.
Cosma
Ja, gerade im Bereich der 24-Stunden-Betreuung. Frauen leisten an vielen Orten einen Großteil der Carearbeit in Familien. Mit dem Beitritt in die EU wurde diese unbezahlt Arbeit monetarisierbar. Zu Beginn waren Sie froh, im selben Haus wie die alten Menschen zu wohnen, das galt fast als Privileg. Heute ist die jüngere Generation skeptischer. Sie weiß von den vielen Fällen sexueller Belästigung oder gar Vergewaltigung, vor allem in Italien, aber nicht nur dort.
Sie sprechen von sexueller Gewalt, von denen die Pflegerinnen bei ihrer Arbeit betroffen sind?
Cosma
Ja. Ich habe während meiner Feldforschung Frauen getroffen, die von Arbeitgebern im Ausland sexuell missbraucht oder anderweitig belästigt wurden – auch in Deutschland. In Italien gab es dokumentierte Skandale um vergewaltigte Saisonarbeiterinnen aus Rumänien. Aber die Geschichten verschwinden schnell aus der Öffentlichkeit. Für die Frauen ist es extrem schwer, darüber zu sprechen, wegen Scham und Angst. Oft erzählen sie von einer Freundin, die betroffen war. Es ist dein Wort gegen das Wort des alten Mannes, bei dem du wohnst. Und zuhause haben die Frauen Familie, Mann und Kinder, die auf sie angewiesen sind.
Wie sieht es in der Landwirtschaft aus, gerade bei Erntehelfern?
Cosma
Dort arbeiten Männer und Frauen, im Bereich Transport auch als Paare. Viele Rumänen waren billiger und haben polnische Arbeitskräfte verdrängt, weil sie schlechtere Bedingungen akzeptierten. Inzwischen übernehmen Roma (Anmk. ethnische Minderheit) diese Jobs, weil sie noch weniger verlangen. Ich kenne hier auch Berichte, dass rumänische Staatsbürger sich über die Arbeit mit Roma beschweren – als Argument um den Hof zu wechseln oder überhaupt das Land zu verlassen.
Haben Sie ein Beispiel?
Cosma
Ich habe eine Roma-Familie begleitet, die in einem Dorf im Norden Rumäniens den Job des Hirten übernahm. Es gibt dort jedes Jahr eine öffentliche Versteigerung, wer die Kühe und Ziegen hütet. Es war wie die Hunger Games. Ein Jahr zuvor hatte ein behinderter Mann die Arbeit gemacht. Die Roma-Familie unterbot ihn und wurde von den Dorfbewohnern angestellt. Am Ende wurde ihnen der Lohn gekürzt, weil sie Analphabeten waren und die Abmachung nachträglich nicht durchsetzen konnten. Sie arbeiteten den ganzen Sommer über fast nur für Essen. Das zeigt, wie sehr Armut ausgenutzt wird.
Während der Corona-Pandemie gab es in Österreich Debatten über Arbeitsinspektoren, die illegale Beschäftigungen aufdeckten. Oft ging es dann um entgangene Sozialversicherungszahlungen an den Staat, aber nicht um die Rechte der Arbeitskräfte.
Cosma
Wenn die Kontrolleure kommen, zahlen die Bauern keine Strafen – bestraft wird der Arbeiter. Das System ist so gebaut. Es beruht auf nicht gewerkschaftlich organisierter Arbeit, von vulnerablen und billigen Arbeitnehmern. Ich habe Quellen, die mir erzählen, dass auch in der Fleischindustrie, im Baugewerbe und in der Landwirtschaft die Arbeitgeber vorab über Kontrollen des Arbeitsinspektorates informiert werden. Ich habe eine zeitlang in Deutschland gelebt, dort bauten Arbeiter aus Rumänien ein Einkaufszentrum, die „Mall of Berlin“. Der Arbeitgeber dürfte geahnt haben, wann das Arbeitsinspektorat kommt. Rumänische Bauarbeiter erzählten mir, sie wurden vorübergehend von der Baustelle weggeschickt, damit die Kontrolleure nur Angestellte mit Verträgen antreffen. Am Ende half ihnen Anarchisten, die selbst außerhalb der Gesellschaft standen, ihre Rechte durchzusetzen oder zumindest Essen und Unterkunft zu bekommen.
Dass die Arbeitsbedingungen im Niedriglohnsektor entsetzlich sind, ist bekannt. Die EU hat deshalb für den Landwirtschaftsbereich die „soziale Konditionalität“ eingeführt: Agrar-Subventionen sollen an die Einhaltung von Arbeitsrechten gekoppelt sein. Ist das durchsetzbar?
Cosma
Auf dem Papier klingt es gut. In der Praxis hat nur Österreich überhaupt etwas umgesetzt – und das in so geringem Ausmaß, dass es keine Wirkung zeigt. Die Politiker kennen die Missstände, sie müssen keine Reportagen lesen. Es gibt genug Studien, genug Berichte. Aber sie simulieren Veränderung, weil die Agrarlobby zu stark ist.
„Wenn die Kontrolleure kommen, zahlen die Bauern keine Strafen – bestraft wird der Arbeiter. Das System ist so gebaut. Es beruht auf nicht gewerkschaftlich organisierter Arbeit, von vulnerablen und billigen Arbeitnehmern.“
Also wird billige Ausbeutung in Kauf genommen?
Cosma
Genau. Europäische Landwirtschaft, wie sie heute organisiert ist, basiert auf ausbeutbarer Arbeit. Früher Rumänen statt Polen, jetzt Roma oder Arbeiter aus Nepal, Bangladesch, Vietnam. Ohne diese Arbeitskräfte würde vieles zusammenbrechen oder viel teurer werden. Natürlich könnte man ein europäisches Mindestlohnsystem einführen, einheitliche Standards für Arbeit und Gesundheit. Aber das würde Profite schmälern – und daran hat die Politik kein Interesse.
Wie wirken sich diese Erfahrungen auf die Politik in Rumänien aus?
Cosma
Die Folgen sind enorm. Früher haben viele Migranten liberale Parteien unterstützt, weil sie in Westeuropa Demokratie und Wohlstand erlebt haben. Doch die Pandemie hat ihr Vertrauen zerstört. 2020 wurden sie von Charterflügen aus Sibiu und Cluj in Rumänien nach Deutschland und Österreich geflogen, mitten in der Corona-Well. Wo sie dann ohne Schutz wie Masken arbeiten mussten. Die Flüge waren eine staatliche Ausnahme der geschlossenen Grenzen und die Leute hatten wirklich große Angst vor dem Coronavirus. Aber sie brauchten auch verzweifelt Geld. Angela Merkels Regierung verlängerte die Frist für nicht versicherte Saisonarbeit. Statt Rechte zu stärken, hat man sie geschwächt. Ein Jahr später sollten dieselben Menschen plötzlich systemrelevant sein.
Und diese Enttäuschung hat den Rechtsruck in Rumänien befeuert?
Cosma
Ja. Migration war nicht mehr die schnelle Lösung, sondern ein Grund für Wut. Rechte Parteien sprechen heute gezielt die Arbeiter an, die im Ausland schuften mussten, schlecht behandelt wurden und zuhause weiterhin arm bleiben. Durch die Inflation war auch das Einkommen aus dem Ausland nicht mehr genug, um den eigenen Lebensstandard stark zu verändern. Sie greifen ihre Wut auf – und verwandeln sie in politischen Protest. Das ist in Rumänien und in Deutschland zu beobachten.
Sie klingen sehr pessimistisch.
Cosma
Weil die großen Versprechen der EU nicht eingelöst wurden. Es gab Fortschritte – etwa die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Aber strukturell bleibt alles beim Alten: Billige Arbeitskräfte sichern billiges Essen im Westen. Es ist kein Fanatismus, wenn Menschen sich rechten Parteien zuwenden. Es ist der Aufstand der Ausgebeuteten, die niemand mehr vertritt.
Ein Gespräch mit dem rumänischen Historiker und Kultur- und Sozialanthropologen Valer Simion Cosma über die Arbeitsmigration aus Rumänien nach Österreich und Deutschland – und warum Ausbeutung und die Pandemie den Rechtsruck in Europa befeuern. Cosma leitet die „Lucian Blaga“-Bibliothek in Sibiu.
Diese Recherche wurde mit finanziellen Mitteln des Projekts „Eurotours“ des österreichischen Bundeskanzleramts unterstützt.