Streikstreben: Für Gernot Rainer agiert die Ärztekammer zu lasch. Der Lungenfacharzt hat eine eigene Gewerkschaft gegründet und will streiken.

Gesundheitssystem: Warum immer mehr Mediziner frustriert sind

Zwischen Besitzstandswahrung, Streikdrohung und Auslandsträumen: Drei Mediziner erklären, was der Wiener Ärzteschaft fehlt.

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Es war ein ruhiger Nachtdienst. Keine Komplikationen, sechs Stunden Schlaf. Peter Poslussny, der im Wiener Kaffeehaus Frauenhuber an seiner Melange schlürft, bleibt dennoch wenig Zeit zur Entspannung.

Der 49-jährige Herzchirurg ist seit über 20 Jahren im Wiener Spitalswesen aktiv. Als er angefangen hat, seien die Arbeitsbedingungen noch "viel härter“ gewesen. Acht Nachtdienste im Monat und 70 Wochenstunden habe er damals heruntergespult, aber das nahm er einfach "in Kauf“. Denn im Vergleich zu heute verdiente er "Geld wie Mist“. Die hohe Belastung hat aber auch ihre Kehrseiten: "Wir haben eine sehr hohe Scheidungsrate in unserer Berufsgruppe.“ Poslussny weiß, wovon er spricht. Er ist selbst geschieden.

In seiner langjährigen Tätigkeit hat er viel erlebt: Operationen etwa, bei denen nur Millimeter zwischen Leben und Tod entschieden. So schnell bringt ihn heute nichts mehr aus der Fassung. Und doch beunruhigen ihn die Streitigkeiten zwischen dem Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV), der Ärztekammer und der Gewerkschaft der Gemeindebediensteten. Wegen einer EU-Verordnung muss ein neues Dienstrecht beschlossen werden, das die Ärzte-Arbeitszeit auf maximal 48 Wochenstunden reduziert.

Gremienglaube: Der Herzchirurg Peter Poslussny kennt das Wiener Spitalswesen seit über 20 Jahren. Er vertraut in die Kraft seiner Standesvertretung.

Poslussny ist einer von 3200 betroffenen Ärzten in Wien.

Nach zähen Verhandlungen ließ die Wiener Ärztekammer ihre Mitglieder, die beim KAV beschäftigt sind, am Montag der Vorwoche über das Verhandlungsergebnis abstimmen. Poslussny hat gegen die vermeintliche Einigung gestimmt, so wie 87 Prozent seiner Kollegen. Das deutliche Votum ist symptomatisch für das brüchige Vertrauen der Ärzteschaft in Dienstgeber und Standesvertretung. Vor allem viele junge Ärzte wenden sich enttäuscht ab. Sie gehen zur Selbsthilfe über - oder flüchten ins Ausland.

Für Poslussny ist das keine Option. "Ich bin durch mein Alter gebunden. Ich habe mein Haus, meine Spitalsstelle, meine Privatordination und mein soziales Umfeld in Wien.“ Angebote von Headhuntern aus anderen Bundesländern habe er deshalb ausgeschlagen.

"Denkzettel" für Verhandler

Das Abstimmungsergebnis nennt der Mediziner einen "Denkzettel“ für die Verhandler. Bemerkenswert ist das vor allem deshalb, weil er nebst seiner Spitalstätigkeit selbst Ärztekammer-Funktionär ist. Er gehört der Kurie der angestellten Ärzte an. Sein Kammerpräsident Thomas Szekeres saß nicht nur im Verhandlungsteam, er unterschrieb sogar die Einigung mit dem KAV. Dass die Kammer jetzt Neuverhandlungen fordert, ist für Poslussny kein Widerspruch: Denn die Kammer habe de jure "nichts zu plaudern“. Vielmehr sei sie bei den Verhandlungen nur Zuseher gewesen. Die Gesundheitsstadträtin Sonja Wehsely sei jedenfalls gut beraten, die Kammer, die immerhin alle Ärzte vertrete, einzubinden.

Als Oberarzt verdient Poslussny heute zwischen 6000 und 7000 Euro netto (inklusive Sonderklassegelder). Geht es nach ihm und seinen Mitstreitern der Kurie, soll das auch in Zukunft so bleiben - trotz reduzierter Arbeitszeit. Dafür müsste das Grundgehalt deutlich angehoben werden.

Für die Ärztekammer geht es auch um das eigene Budget: Die Kammerbeiträge werden prozentuell vom Grundgehalt abgezogen. Höhere Gehälter bedeuten also mehr Geld für die Kammer.

"Scheitern der Interessensvertretungen"

Von seiner Standesvertretung fühlt sich Gernot Rainer schon seit Jahren nicht mehr repräsentiert. Der 36-jährige Lungenfacharzt bescheinigt der Ärztekammer wegen ihrer vielen Kurien und Fraktionen "Handlungsunfähigkeit“. Er spricht sogar von einem "Scheitern der Interessensvertretungen“ - und meint damit auch die Gewerkschaft der Gemeindebediensteten.

Rainer stammt aus einer Kärntner Ärztefamilie und praktiziert im Otto-Wagner-Spital auf der Baumgartner Höhe. Er gehört einer neuen Generation von Medizinern an. Geld ist ihm nicht so wichtig. Zwar kennt auch er das Spitalsleben mit bis zu 60 Wochenstunden. Nach der Geburt seines Sohnes vor knapp drei Jahren sei das aber zum "Alptraum“ geworden. Nun ist er seit einem Jahr in Elternteilzeit - als erster Mann an seinem Spital machte er von dieser Möglichkeit Gebrauch. Er verdient jetzt 2000 Euro netto. Reich wird er damit nicht, aber es bleibt ihm Zeit für die Familie.

Wenn alle Ärzte geschlossen auf die Straße gehen, hält das die Politik nie durch. (Gernot Rainer, Lungenfacharzt)

Ursprünglich begrüßte Rainer die geplante Reduktion der Ärztearbeitszeit. Doch als er mitansehen musste, wie sich die Verhandlungspartner um eine Lösung drückten und Ausnahmeregelungen formulierten, hat es ihm gereicht.

Kurzerhand gründete er die Ärztegewerkschaft Asklepios (so heißt der griechische Gott der Heilkraft) aus einer "persönlichen Frustration“ heraus, wie er sagt. Rainer hat den richtigen Zeitpunkt erwischt: Der Elitenverdruss treibt der neuen Bewegung die Ärzte nur so zu. Innerhalb weniger Wochen kletterten die Mitgliederzahlen auf über 900 in Wien, mehr als 1700 sind es bereits in ganz Österreich. Und das, obwohl die Neo-Gewerkschaft noch keinerlei Infrastruktur zu bieten hat.

"Bevölkerung braucht mehr Medizin"

Rainer machte im Vorfeld der Abstimmung für eine Ablehnung mobil und stimmte selbst "reinen Gewissens“ dagegen. Dass die geplante Kürzung von 382 Dienstposten durchsickerte, brachte die Stimmung zum Kippen, meint er; Das entspreche zwölf Prozent der Ärzteschaft in den KAV-Spitälern. "Die Bevölkerung wächst und wird älter, sie braucht also mehr Medizin“, der Arbeitsaufwand werde sicher nicht weniger. Vor diesem Hintergrund habe es "irrsinnige Angst“ der Ärzte vor einer "massiven Arbeitsverdichtung“ gegeben.

Die Ärztekammer agiert in Rainers Augen viel zu lasch. Er hingegen redet offen von Streikmaßnahmen. "Man kann ein Land nicht ohne Spitäler und Spitäler nicht ohne Ärzte betreiben. Wenn alle Ärzte geschlossen auf die Straße gehen, hält das die Politik nie durch“, übt er sich bereits im Säbelrasseln. Der Kammer und der Gewerkschaft der Gemeindebediensteten spricht er die Legitimation ab. In Zukunft will er selbst die Gehaltsverhandlungen für die angestellten Ärzte führen.

Trotz verhärteter Konfliktlinien sieht auch Rainer ein, dass das teure Spitalswesen zurechtgeschrumpft werden muss. Dazu brauche es aber Investitionen in den niedergelassenen Bereich, sonst verschärfe sich die Zweiklassenmedizin weiter, warnt er.

Auf die Entlastung der Kliniken will Sarah Schober nicht mehr warten. Die 27-jährige angehende Medizinerin träumt von einem Leben in Finnland. Mit Holzhaus. Schober wird die zweite Hälfte ihres klinisch-praktischen Jahres im hohen Norden absolvieren.

Wenn du in Österreich im OP etwas fragst, läufst du Gefahr, rausgeschmissen zu werden. (Sarah Schober, Medizinstudentin)

Wenn sie von ihren Praktika in Finnland erzählt, kommt sie ins Schwärmen: "Dort gibt es überhaupt keine Hierarchien, der Chefarzt stellt sich mit seinem Vornamen vor.“ Und die Wissensvermittlung habe einen höheren Stellenwert: "Wenn du in Österreich im OP etwas fragst, läufst du Gefahr, rausgeschmissen zu werden. In Finnland wundern sie sich, wenn du nichts fragst.“ Die aktuellen Streitereien haben Schober in ihrem Auslandsplan noch weiter bestärkt.

Sie ist kein Einzelfall. Jeder zweite österreichische Medizin-Student plant nach dem Studienabschluss den Sprung ins Ausland. Das ergab eine Befragung der Hochschülerschaft an der Wiener Medizinuni, deren Vorsitzende Schober ist. Österreich droht wegen der Abwanderung ein Ärztemangel, obwohl so viele Mediziner ausgebildet werden wie in kaum einem anderen Land.

Auslandsambition: Nach Finnland zieht es die Jungmedizinerin Sarah Schober. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hat für sie Priorität.

Das kümmert Schober nicht. In Finnland, glaubt sie, ist die Vereinbarkeit von Spitalstätigkeit und Familie viel einfacher zu bewältigen. Das ist ihr besonders wichtig, weil sie bereits zwei Kinder hat. Ihr Freund, der wie sie Medizin studiert, wird sich ebenfalls um eine finnische Spitalsstelle bewerben.

Finanzielle Erwägungen spielen für Schober kaum eine Rolle. Von ihrer Arbeit will sie sich lediglich ihr Leben finanzieren können. Deutlich wichtiger sind ihr aber Freizeit und Lebensqualität. Immer wieder spricht sie von der "work-life-balance“. Und die sei in Österreich derzeit nicht gewährleistet. Ändert sich bis zum Abschluss ihrer Ausbildung nichts daran, kann sich Schober sogar vorstellen, längerfristig in Finnland zu bleiben. Sie wird dem österreichischen Gesundheitssystem fehlen.

FOTOS VON MICHAEL RAUSCH-SCHOTT (http://www.rausch-schott.at)

Jakob   Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv.