Attentat von Graz: Direktorin plant Rückkehr in Schule
Nach der Sitzung des steirischen Landessicherheitsbeirates vergangenen Mittwoch wird die Frage erstmals öffentlich erörtert: Was wird mit jenen Klassenräumen des BORG Dreierschützengasse in Graz passieren, in denen zehn Menschen – neun Schülerinnen und Schüler und eine Lehrerin – am Dienstagvormittag des 10. Juni ermordet wurden? Die steirische Bildungsdirektorin Elisabeth Meixner gibt Auskunft: Man sei dazu in Kontakt mit Vertretern des Gutenberg-Gymnasiums im deutschen Erfurt, wo ein Amokläufer im April 2002 16 Menschen tötete. Ein Lehrer am BORG Dreierschützengasse sei Architekt. Auch die Schüler sollen sich einbringen, wie man mit den Räumen umgehen könnte.
Werden es Orte des Unterrichts sein – wie zuvor? Des Gedenkens? Der Aufarbeitung? Oder all das zugleich?
Die ersten Opfer sind begraben, neun Verletzte liegen nach Angaben der Behörden noch in den Krankenhäusern. Vorsichtig versucht die Schulgemeinschaft, sich der Normalität wieder anzunähern. Ab Montag, so Bildungsdirektorin Meixner, beginnt ein von Lehrern zusammengestelltes Betreuungsprogramm mit Sport, Musik und Lesungen in eigens organisierten Gebäuden. Allerdings steht ein Stockwerk in der Schule zur Verfügung, „für die Schüler, die wieder in ihr Gebäude möchten, um einen Ort aufzusuchen, um zu verarbeiten“, so Meixner.
Während Graz und die steirische Landespolitik noch im Krisenmodus laufen, setzte die Bundesregierung in Wien erste Maßnahmen um. „Nach so einer Tragödie muss man etwas ändern“, so Innenminister Gerhard Karner (ÖVP).
Am Mittwoch wurde im Ministerrat eine Verschärfung des Waffengesetzes beschlossen. Waffenpsychologische Gutachten sollen verbessert werden, die Ergebnisse von psychologischen Tests bei der Bundesheer-Stellung künftig auch der Waffenbehörde zugänglich sein. Bei Auffälligkeiten soll ein bis zu zehnjähriges Waffenverbot verhängt werden können. Das Mindestalter für den Erwerb besonders gefährlicher Schusswaffen wird von 21 auf 25 Jahre erhöht. Beim Kauf der ersten Waffe wird die Wartezeit bis zur Aushändigung auf vier Wochen verlängert. Waffenbesitzkarten für erstmalige Waffenbesitzer werden auf acht Jahre befristet. Dazu wird ein Entschädigungsfonds in der Höhe von 20 Millionen Euro für die Opfer des Amoklaufs von Graz eingerichtet, um etwa die Kosten für Begräbnisse oder psychologische Betreuung zu decken. Auch der Schule sollen Mittel aus dem Fonds zur Verfügung gestellt werden.
Amokläufer ohne Sozialkontakte
Das Tatmotiv des 21-jährigen Amokläufers ist nach wie vor nicht geklärt. Gegenüber profil heißt es aus Ermittlerkreisen, dass sich erste Mutmaßungen, frühere Mobbing-Erfahrungen in der Schule könnten der Grund für eine späte Rache gewesen sein, nicht erhärten ließen. A. war in seiner Schulzeit ein Außenseiter. Ein profil vorliegendes Klassenfoto von einer späteren schulischen Station zeigt das plakativ. Während sich andere Schüler kichernd auf das Bild drängen, steht A. ein Stück von den anderen entfernt am Rand der Szenerie – als wolle er gar nicht dazugehören.
A., der Schulabbrecher, hatte kaum ein soziales Leben. Freunde suchte er sich in der virtuellen Welt. Der Amokläufer hatte eine große Leidenschaft für Videospiele. Zuerst spielte er auf Gaming-Plattformen mit anderen Ego-Shooter – doch dabei blieb es nicht. Im Netz fand er Gleichgesinnte, die auch im echten Leben schießen wollten. Das große Vorbild dieser globalen, todessehnsüchtigen Community ist der Massenmord an der Columbine High School bei Littleton im US-Bundesstaat Colorado. Am 20. April 1999 – vier Jahre, bevor A. überhaupt geboren wurde – ermordeten zwei Abschlussklässler zwölf Schüler und einen Lehrer. Danach erschossen sie sich. Die Tat löste weltweit Entsetzen aus – aber in der Folge auch einen Hype und einen Anstieg von Schießereien an Schulen („School Shootings“). Man kennt dies als „Columbine-Effekt“. Viele spätere Täter nannten die beiden Attentäter als Inspiration.
Ein Foto, das der Grazer Amokläufer kurz vor seiner Tat am 10. Juni um 9.48 Uhr auf die Plattform X hochlud, legt nahe, dass auch er sich intensiv mit dem Columbine-Attentat beschäftigte. A.s Profilbild zeigt einen der beiden Amokläufer. Das hochgeladene Foto lehnt an weitere Columbine-Nachahmungsattentate an. In einschlägigen Foren und Videospielplattformen wird nun A. – wie andere Schul-Attentäter zuvor – mit Codes, Symbolen, Manifesten und Videos verehrt. Das steirische Landesamt für Staatsschutz und Extremismusbekämpfung will Poster, die den Amoklauf im Netz gutheißen, nun ausforschen.
Dass Gaming-Plattformen von extremistischen und terroristischen Akteuren genutzt werden und hier Radikalisierung und Rekrutierung von Minderjährigen stattfinden, ist ein globales Phänomen, vor dem etwa das Radicalisation Awareness Network der EU und Europol warnen. Auch die Attentäter von Halle (Anschlag auf eine Synagoge im Oktober 2019 mit zwei Toten) und im neuseeländischen Christchurch (Terroranschlag auf zwei Moscheen im März 2019 mit 51 Toten) bewegten sich auf diesen Plattformen.
Die Bundesregierung will nun die Aktivitäten auf den Social-Media-Plattformen stärker regulieren. Vizekanzler Andreas Babler (SPÖ) forderte „zum Schutz von Kindern und Jugendlichen“ Beschränkungen beim Zugang zu den sozialen Medien. Ein Alterslimit sei „eine der Möglichkeiten“, meinte Bundeskanzler Christian Stocker (ÖVP). Und Bildungsminister Christoph Wiederkehr (Neos) formulierte es in einem „Presse“-Interview besonders drastisch: „Der gefährlichste Ort unserer Gesellschaft in Österreich ist aktuell Social Media. Radikalisierung findet digital statt.“ Kinder und Jugendliche unter 14 Jahren sollten keinen Zugang dazu haben.
Die Direktorin des BORG Dreierschützengasse, Liane Strohmaier, äußerte sich im ORF-Steiermark erstmals seit dem Amoklauf. Die meisten Schüler, so ihr Eindruck, „wollen in die Schule zurück und versuchen so aufzuarbeiten, indem sie sich der Situation stellen.“ Bei aller Trauer müsse das Ziel der Weg zurück in die Normalität sein.