Nichts ging mehr: Flüchtlinge an der Grenze zu Österreich in Nickelsdorf.

Als in Nickelsdorf und Spielfeld die Grenzen gestürmt wurden

Wie war das, als vor einem Jahr in Nickelsdorf, in Spielfeld, in Kollerschlag Abertausende Flüchtlinge auftauchten? Wie gingen die Bewohner damit um? Und was blieb?

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An der Hauptstraße in Nickelsdorf, wo sich das Grau einer trostlosen Transitzone ankündigt, betonierte Parkplätze an Maisfelder stoßen, Nachtclubs und Tankstellen blinken und die nahe Autobahn rauscht, steht eine kleine Konditorei. Ein Fremder, der hier eintritt, ist erst einmal fremd. Alle Augen sind auf ihn gerichtet: Woher kommt er, wohin geht er?

Man kennt sich hier aus mit Auswärtigen. Die älteren Dorfbewohner haben alles schon gesehen. Ungarnflüchtlinge in dicken Mänteln, die ganze Habe in einem Koffer. Nach dem Ungarnaufstand 1956 kamen mehr als 30.000 der insgesamt 170.000 Flüchtlinge über das novembergraue Nickelsdorf in den Westen. Immer wieder liefen durchnässte Gestalten über die Felder, die die Donau durchschwommen hatten, und man glaubte, ferne Schüsse zu hören. Im Spätsommer 1989 standen Hunderte pastellfarbene, kleine Trabis an der Grenzstation, denen überglücklich junge DDR-Bürger entstiegen, die jedem um den Hals fielen.

Im vergangenen Jahr war noch einmal alles anders. Ein Rauchfangkehrer, rußverschmiert, der in der kleinen Konditorei eine Frühstückspause einlegt, ist stolz auf Nickelsdorf: "Wir waren ein Vorbild.“ Alle nicken. "Aber ausg’schaut hat’s hier wie in einem Schweinestall“, wirft ein Stammgast ein.

Ich ruf im Bundeskanzleramt an: Ich denke: Werner, du musst helfen. (Gerhard Zapfl)

Sie reden oft über die Flüchtlinge, die vor einem Jahr durch den Ort wanderten, fremdländisch aussehende Männer und Frauen mit kleinen Kindern an der Hand, erschöpft und nicht ansprechbar, mit Stofffetzen um die Füße gebunden und leeren Augen, und aufgekratzten jungen Männern, die aussahen, als wären sie auf der Walz wie einst die Handwerksburschen.

Eines Morgens, als er beim Frühstück aus dem Fenster sah, blieb dem Nickelsdorfer Bürgermeister Gerhard Zapfl einen Augenblick lang das Herz stehen. Auf der Bahnstraße war alles schwarz vor Menschen. Es war der 11. September und Zapfl hatte gedacht, seine Gemeinde hätte das Gröbste schon hinter sich. Er hatte sich gründlich getäuscht.

Es hatte Vorboten gegeben - die Kastenwägen, die leer herumstanden. Immer öfter sah man Fremde im Ort, die aus dem Nichts zu kommen schienen. Und dann das Menetekel: die 71 Toten im Kühltransporter von Parndorf. Kurz darauf Fernsehberichte von Tausenden Flüchtlingen am Bahnhof in Budapest; Flüchtlinge, die sich mit der Europafahne vorweg auf den Weg machten - und Angela Merkels "Wir schaffen das“.

Bürgermeister Zapfl hieß die Flüchtlinge auch willkommen. Er glaubte, die, die da kamen, seien die Budapester, und danach sei es wieder vorbei.

Doch jener 11. September war ein Schock. 10.000, 15.000? Unangekündigt. Zapfl war verzweifelt. "Ich ruf im Bundeskanzleramt an: Ich denke: Werner, du musst helfen.“ Doch Bundeskanzler Werner Faymann war für ihn nicht zu sprechen.

In diesen Wochen sind Freundschaften entstanden und zerbrochen. Ina Sattler, die Gemeindeangestellte, bei der alle Fäden zusammenliefen, musste sich fragen lassen, wie sie als "mitteleuropäische Frau“ solchen Menschen helfen könne!

Es gibt für sie eine neue Zeitrechnung: vor und nach den Flüchtlingen.

Wie fast überall haben auch die Nickelsdorfer, wenn sie nicht aktive Helfer waren, die Flüchtlinge kaum zu Gesicht bekommen. In Hallen untergebracht und versorgt, in Zügen und Bussen an der Bevölkerung vorbeigeschleust. Die Hilfsbereitschaft war so groß, dass zu viel da war, vieles weggeworfen werden musste.

Die Helfer von damals verstehen einander heute blind. Sie haben eine Gemeinschaftsaufgabe bewältigt, sind über sich hinausgewachsen. Wir treffen sie in einem schmucklosen Raum im Nickelsdorfer Gemeindeamt: Den Bürgermeister, den Rotkreuzhelfer und Gymnasialdirektor Walter Roth, die Gemeindeangestellte Sattler und einen Asylwerber aus Damaskus, der noch vor dem großen Ansturm in Nickelsdorf gestrandet war, mit den Flüchtlingen reden konnte und auch sonst überall mithalf. Und die Rotkreuzhelferin Magdalena Haas, selbst ein Flüchtlingskind, deren Familie nach dem Krieg aus Hegyeshalom gekommen war. Sie ist die älteste in der Runde und die stillste.

Aus den anderen bricht es heraus. Durcheinander, lachend und anklagend, fallen sie einander ins Wort. Man vergaß damals Beruf, Familie, Essen, Schlaf. "Wir standen unter Strom. Sie waren da. Es musste jetzt geschehen“, sagt der Bürgermeister. "Du bist high und es rennt“, sagt der Gymnasialdirektor. Einzelne Erinnerungen haben sich eingebrannt. Blicke, Situationen. Zum Kennenlernen der Flüchtlinge, zum Austausch von Handynummern war keine Zeit.

Registriert wurde in Nickelsdorf niemand. Die Ankommenden wurden gezählt und bekamen Bändchen. "Das war jenseits der Gesetzeslage, aber es ging nicht anders“, sagt Zapfl.

Unter den Flüchtlingen ging das Gerücht um, Deutschland sei nahe, nur noch 20 Kilometer entfernt.

Einmal war es in der Nova-Rock-Halle zu einer unguten Situation gekommen, erzählt Sattler: "Ein Hilfstransport von 25 Kleinbussen mit britischen Kennzeichen fährt vor, drinnen irrsinnig viele Männer mit Bärten. Bei deren Anblick fangen einige unserer Flüchtlinge an zu zittern. Sie wollen sofort weg. Böse, sagen sie.“ Sattler verständigte die Polizei. Wer die Männer waren und was sie wollten, ist bis heute ungeklärt.

Haben die Helfer Sorge, vielleicht auch potenzielle Attentäter verköstigt und auf den Weg geschickt zu haben? Roth hält das für Schwachsinn. "Der IS hat es nicht notwendig, dass sich seine Kämpfer die Füße wundlaufen und hungern.“

In Nickelsdorf werden zur Zeit täglich zehn bis 20 Flüchtlinge aufgegriffen, wie es im Amtsjargon heißt. An der ehemaligen Zollstation, wo im Herbst 2015 Abertausende Flüchtlinge unter freiem Himmel lagerten und sich um Busse drängten, wo später Taxis kilometerweit standen und Wucherpreise verlangten, gähnt heute eine große, leere Fläche. LKWs stehen da, beschlagnahmte Schlepperautos, die keiner ersteigern will. Ein großes weißes Zelt und mehrere Dutzend nagelneue Container für Registrierung und Rückschiebung glänzen in der Mittagssonne. Alles ist verwaist. Nichts davon wird gebraucht.

In der ersten Septemberhälfte 2015 hatten die Ungarn ihre Grenzen dichtgemacht. Die Flüchtlinge von der Balkanroute trafen nun im südsteirischen Spielfeld ein. Bürgermeister Reinhold Höflechner hatte sie erwartet. In seinem Zivilberuf ist er Oberst des österreichischen Bundesheeres, mit Grenzsicherung und geheimen Lageberichten vertraut. Doch darauf war Höflechner nicht gefasst: dass die Flüchtlinge sich in Spielfeld stauten, weil Deutschland über Nacht Kontingente eingeführt hatte und sich nun mehrere Tausend Menschen auf eigene Faust auf den Weg machen wollten. Unter den Flüchtlingen ging das Gerücht um, Deutschland sei nahe, nur noch 20 Kilometer entfernt.

Bürgermeister Zapfl.

Auf Google Maps hatte jemand "Deutschlandsberg“ gefunden. So gingen sie los. Auf der schnurgeraden Bundesstraße nach Norden, ihrem gelobten Land entgegen, etwa fünf Kilometer weit, begleitet von dröhnenden Lautsprecherdurchsagen in allen Sprachen: Zurück! Ehe sie beim einem Kreisverkehr aufgaben, an die Türen von Einfamilienhäusern klopften, um Wasser baten und fragten, ob sie in den Vorgärten lagern dürfen. Dreimal hintereinander probierten sie es. Höflechner hat das Entstehen der Massenhysterie einmal beobachtet: "Mittendrin entsteht eine Unruhe, eine Welle breitet sich über die ganze Masse aus, und dann gehen alle los. Der Mensch hat ja doch einen ungeheuren Herdentrieb.“.

Immer wieder mussten Straßen gesperrt werden, der öffentliche Verkehr kam zum Erliegen. Die Menschen saßen fest, konnten nicht in ihre Häuser. Das machte böses Blut.

Die Flüchtlinge mussten am Ende den Weg zu Fuß wieder zurückgehen. "Wir haben das ganz bewusst so angeordnet. Damit sie es auch körperlich spüren, dass es ein Blödsinn war“, sagt Höflechner.

Der Bürgermeister ist nicht nur in diesem Punkt mitleidlos, auch wenn in seinem kleinen Amtszimmer in Gemeindeamt von Strass an prominenter Stelle ein Kreuz angebracht ist. Höflechner ist kein Befürworter der sogenannten Willkommenskultur. Die Flüchtlinge des vergangenen Jahres erscheinen ihm rückblickend eher wie eine fremde Armee als bedürftige Menschen: "Der Großteil war in guter körperlicher Verfassung. Viele wirkten wie Touristen. Viele Junge waren tipptopp gekleidet, hatten Markenschuhe, Rucksäcke, wie unsere Jugend als Backpacker. Sauber beieinander. Schlecht ging es manchmal ganz kleinen Kindern und alten Menschen, denen die Reisestrapazen zugesetzt hatten.“

Nach Ansicht von Höflechner habe der Staat Österreich damals fahrlässig gehandelt: "Die sind alle illegal und unkontrolliert einmarschiert. Kein einziger Flüchtling wurde registriert, keiner wurde nach Name und Herkunft gefragt, nicht einmal gezählt wurden sie.“ Natürlich müsse man sich Sorgen machen über eingesickerte IS-Kämpfer. Als Oberst des Bundesheeres könne er nur so viel sagen: "Wir wissen, dass Tausende solche unterwegs sind. Sogenannte Schläfer. Die nur auf einen Anruf warten. Es ist sehr blauäugig, zu glauben, mit dem Flüchtlingsstrom seien sie nicht gekommen. Die sind da zu Hunderten durchmarschiert. Die haben das geschnallt, dass sie unkontrolliert raufkommen und bestens versorgt werden.“

Kontrolliert wurde die grüne Grenze von bewaffneten jugoslawischen Grenzpatrouillen, die manchmal ganz überraschend vor einem auftauchten, und weniger eifrigen österreichischen.

Es ist schwer zu sagen, ob der Bürgermeister von Spielfeld-Strass von vorherein gegen Flüchtlinge eingestellt war oder ob einzelne Vorkommnisse ihn bestärkten. Für ihn persönlich waren jedenfalls "tätliche Angriffe der Flüchtlinge, die verschwiegen werden mussten, ein Riesenproblem“. Wenn Höflechner davon erzählt, wird sein Ton heftig: "Die Einsatzkräfte durften das nicht melden: Aber unsere Leute wurden angespuckt und geschlagen. Sie bildeten Menschenketten und standen Körper an Körper mit den Flüchtlingen, die Druck auf sie machten. Unsere Leute hatten anfangs nichts in der Hand, womit sie sich wehren konnten. Man wollte ja human sein. Man durfte nichts tun. Da haben sich unsere Leute Taschenlampen gekauft, mit denen sie den Angreifern zumindest auf die Köpfe schlagen konnten. Erst später durften sie Pfefferspray einsetzen.“

Einen gewissen Zorn hat Höflechner auch auf die Medien. Weinte irgendwo ein Kind, hätten sich alle Kameraleute darauf gestürzt. Die aggressiven jungen Burschen habe man dagegen nie im TV gesehen, doch die seien in der Überzahl gewesen.

Andererseits: Angebliche Vergewaltigungen und ausgeraubte Supermärkte, von denen in den sozialen Netzwerken berichtet wurde, habe es auch nie gegeben, bestätigt Höflechner.

Sein Resümee ist bitter: "Diese Masse an Menschen ist nicht integrierbar. Aufgrund ihrer Fremdartigkeit, aufgrund ihrer mangelnden Qualifikation und weil es nicht genug Wohnungen gibt und Arbeit. Sie werden sich immer am unteren Ende des sozialen Lebens befinden. Es ist falsch gewesen, sie herzuholen. Im Mittelmeer arbeitet die EU praktisch mit den Schleppern zusammen. Die füllen die Tanks nur noch zur Hälfte und sagen den Flüchtlingen: Ihr werdet eh gerettet.“

Höflechner ist in der Grenzregion großgeworden. Einen Grenzzaun hat es in der Südsteiermark nie gegeben. Aber Wanderwege, Schleichwege und Straßen, die links slowenisch und rechts österreichisch waren. Kontrolliert wurde die grüne Grenze von bewaffneten jugoslawischen Grenzpatrouillen, die manchmal ganz überraschend vor einem auftauchten, und weniger eifrigen österreichischen.

Daneben wurden Knallkörper verkauft, und ein Hendlwirt machte zwar das Geschäft seines Lebens mit den Flüchtlingen, kam ihnen jedoch auch mit Pfefferspray entgegen, so wird berichtet.

Im vergangenen Jahr wurde im Zuge der Flüchtlingshysterie hier ein Zaun aufgestellt. Er zieht sich im Osten durch schwer zugängliche Murauen und im Westen über Weinberge. Blickt man dort ins Land hinein, kann man an sanften Abhängen, zwischen Rebstöcken und Heurigenwirten, in der Sonne ein Glitzern sehen. Das ist der Maschendraht. Ein paar Kilometer ist er lang. und er hat mehr Lücken als bekannt. Wegen des Einwands mancher Winzer, sie könnten wegen den Zauns mit ihren Traktoren nicht zu ihren Weinbergen kommen, hat man eine österreichische Lösung gefunden. Hier und dort wurden nur Stangen in den Boden gerammt, an denen der Maschendraht theoretisch befestigt werden kann. Der lagert in Spielfeld.

Helmut Strobl, der in den Weinbergen im Haus seines Urgroßvaters wohnt, hat sich aus prinzipiellen Gründen geweigert, einen Zaun auf seinem Grundstück aufstellen zu lassen. Als Eigentümer steht ihm das zu. "Ein Zaun ist ein falsches Zeichen. Wir waren alle glücklich, als die Grenze weg war. Man soll doch bitte einmal grundsätzlich reden. Über Grenzen, die willkürlich gezogen wurden, über Kolonialismus und das Debakel, das er angerichtet hat.“

Vor diesem Zaun müsse man keine Angst haben, sagt der ehemalige Grazer Kulturstadtrat. Sein Enkel sei schon einmal drübergeklettert. Strobls Zaunlücke ist acht Meter lang, die Rebellion eher symbolischer Natur. Dennoch will er damit an die positiven Aspekte der Grenzlandmentalität erinnern. An die Hilfe, die man hier den Flüchtlingen immer schon gewährt hat. Als Jugendlicher hat er einmal einen ärmlich gekleideten Mann mit Aktentasche aus dem Wald hasten sehen. Doch da war nichts mehr zu machen. Der Mann wurde festgenommen.

Nach den Selbstversuchen der Flüchtlinge, von Spielfeld nach Deutschland weiterzukommen, wurden die Anstrengungen für den Weitertransport verstärkt. Man dachte wohl, es sei besser, sie anderswo warten zu lassen. In Spielfeld herrschte keine freundliche Stimmung. Das lag auch an den dortigen Lokalbetreibern und Anti-Flüchtlingsdemonstrationen. Ein rustikales Biker-Lokal direkt an der Grenze stellte sich als Treffpunkt der Identitären heraus, bei denen auch handfeste Neonazis mitmischen. Der Wirt selbst demonstrierte gegen die Flüchtlinge. Daneben wurden Knallkörper verkauft, und ein Hendlwirt machte zwar das Geschäft seines Lebens mit den Flüchtlingen, kam ihnen jedoch auch mit Pfefferspray entgegen, so wird berichtet.

Ich bin der letzte Zeitzeuge im Dorf. (Franz Saxinger)

So werden sie mit großer Hoffnung im Herzen in den Bussen an die österreichisch-bayerische Grenze gesessen sein. Sie fuhren auf der Pyhrnautobahn. Fernab von der Idylle der steirischen Weinstraße, seinem tausendfachen Grün und dem goldenen Herbstlaub. Sie fuhren Stunden durch eine langweilige Ebene und sahen Einkaufszentren, KFZ-Händler, Tankstellen, Industriebetriebe und Gasthäuser mit Fremdenzimmern. Eine Zeit lang hatten sie hohe Berge vor sich und dunkle Wälder. Die blauen Seen des Salzkammergutes, seine Berge und seine schmucken Ortschaften bekamen sie nicht zu Gesicht. Erst nach Stunden weitete sich der Blick und sie sahen ins Bayerische hinein. Auf einer riesigen Wiese hieß es wieder aussteigen und warten. In einem großen Zelt wurden sie mit Essen und Trinken versorgt, medizinisch betreut. Hier konnten sie sich auch ausstrecken. Zeitweise wurden hier 17 Busse am Tag abgefertigt. Einmal waren innerhalb von 24 Stunden 60 Busse nach Kollerschlag gekommen.

Die Wiese neben dem kleinen Grenzbächlein gehört dem alten Bauern Franz Saxinger. Er hatte sie zur Versorgung der Flüchtlinge zur Verfügung gestellt. Er wusste, dass dort nicht so schnell wieder etwas wachsen würde. Doch sein Sohn, Franz Saxinger, ist Bürgermeister von Kollerschlag, einem 1500-Einwohner-Dorf, und der war in Not, als er eines Tages im September einen Anruf bekam, es kämen jetzt 300 Flüchtlinge, und das seien nicht die letzten.

Franz Saxinger wird demnächst seinen 90. Geburtstag feiern. Er ist ein klein gewachsener Mann. Doch wenn er spricht, tut er das mit großer Autorität. Er hat Notizen vorbereitet in einer schönen, regelmäßigen Handschrift. "Ich bin geboren am 3.10.1926 und der letzte Zeitzeuge im Dorf.“ So hebt er an.

Saxinger hat in Kollerschlag historische Wendepunkte erlebt, die mit der Grenze zu tun haben. Er hat den Nazi-Putsch 1934 erlebt und den Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1938.

Man muss schon einmal den Staat loben. Es wäre eine Katastrophe gewesen, wenn man die Leute wild durch Österreich geschickt hätte. (Franz Saxinger)

Sie waren eine kinderreiche Bauernfamilie. Sie hatten nicht viel, aber doch mehr als die allerärmsten. Seine Mutter hatte ein gutes Herz und ließ Bettler in der Rumpelkammer übernachten, auch wenn sie Ungeziefer mitbrachten und allerlei anderes Unbill. Die Kinder halfen auf andere Art. Sie zeigten dem fahrenden Volk, bisweilen auch Schmugglern, vor allen aber den jungen Nationalsozialisten die Schleichwege über die Grenze nach Deutschland, zu einem Gasthaus in Wegscheid. Das war in den 1930er-Jahren. Adolf Hitler hatte sich in Deutschland an die Macht geputscht. In Österreich war die NSDAP verboten worden. Viele überzeugte Nationalsozialisten, die auf einen Umsturz hinarbeiteten, flüchteten deshalb über die grüne Grenze. Unter diesen Männern war auch Robert Haider gewesen, der Vater des verstorbenen Kärntner Landeshauptmanns.

Der Putsch der Nationalsozialisten am 25. Juli 1934 in Wien war bereits gescheitert, doch das wussten die Verschwörer nicht, die im Grenzgebiet Gewehr bei Fuß standen. Nach Plan rückten sie in der darauffolgenden Nacht nach Kollerschlag vor. Sie sollten Polizeistationen und Postämter besetzen. Saxinger erinnert sich: "Wir Kinder waren im oberen Stock. Da kam der Vater mit einer Stall-Laterne und sagt: Buben, auf, wir haben einen Nazi-Überfall. Ich hab den Vorhang weggetan und einen Mann mit Nazi-Armbinde gesehen.“ Am nächsten Tag hieß es, sie hätten den Dorfgendarmen erstochen. Saxinger erinnert sich mit Grauen an die Blutlache und an einen röchelnden Putschisten, der in einem Stall lag, der später mit einem Pferdefuhrwerk nach Wegscheid gebracht wurde.

Den alten Saxinger kann nichts mehr erschüttern. Die Moslems? "Nein. Das stört mich überhaupt nicht. Du kannst es dir nicht aussuchen, ob du in eine christliche Familie hineingeboren wirst oder in den Islam. Auch den Wohnort kann sich niemand aussuchen. Das ist der Wille Gottes.“

Einmal gab es in Kollerschlag eine unwägbare Situation. In der Regel wurden die Flüchtlingszüge an der Bevölkerung vorbeigeleitet. Doch einmal mussten sie zu Fuß drei Kilometer durch das Dorf zur Grenze gehen. "Verschleierte Frauen auf der Landstraße. Bauern, die dem Tagwerk nachgehen, und plötzlich sehen sie eine solche Prozession. Die haben alle gestaunt. Zuerst hatte es geheißen: Alles zusperren. Es ist überhaupt nichts passiert“, sagt Saxinger junior.

Was aber rät ein 90-Jähriger mit seiner langen Lebenserfahrung im Umgang mit den Flüchtlingen? "Man muss schon einmal den Staat loben. Es wäre eine Katastrophe gewesen, wenn man die Leute wild durch Österreich geschickt hätte“, sagt Saxinger. Und: "Beten.“

Christa   Zöchling

Christa Zöchling