Krieg in der Ukraine

Heinz Fischer: "Putin hat ordentlich von Stalin gelernt“

Heinz Fischer stellt bei Wladimir Putin einen Persönlichkeitswandel fest und hält dessen Kriegsreden für brandgefährlich.

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profil: Herr Fischer, befinden wir uns wieder im „Kalten Krieg“?
Fischer: Die Geschichte wiederholt sich nicht in dieser Form. Aber ein neuer Abschnitt in der europäischen Geschichte hat zweifellos begonnen, mit niedrigen Temperaturen.

profil: Sie kennen Herrn Putin wahrscheinlich besser als andere Staatsmänner. Sie sind ihm 2004 das erste Mal begegnet. War er damals ein anderer als heute?
Fischer: Ich bin Putin achtmal begegnet. Auf mich hat er sehr rational gewirkt, lebendig. Gespräche mit ihm waren nicht unangenehm. Ich habe mich nie getäuscht gefühlt. Ich denke viel darüber nach. Ich glaube, Putin hat sich verändert. Seine Ziele setzt er, das höre ich, allein und autoritär fest; lässt sich nur noch beraten, wie er sie durchsetzen kann. Ich bin zornig und enttäuscht über die Art, wie Putin militärische Pläne jenseits der russischen Grenzen abgestritten hat. Er hat kaltblütig die Unwahrheit gesagt. 

profil: Wurden Sie nie gezielt verunsichert? So wie die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, von der jeder wusste, dass sie Angst vor Hunden hat, und Putin seine Labradors auf sie zulaufen ließ?
Fischer: In dieser Richtung habe ich nichts Negatives erlebt. Ich hatte einmal bei einem Staatsbesuch das falsche Redemanuskript am Tisch liegen, und Putin sagt auf Deutsch: „Machen Sie sich nichts draus, das ist dem Breschnew oft passiert.“ Kurze Pause. „Er hat es nur nicht bemerkt.“ Damit war die Situation entspannt. Neben allen strategischen Überlegungen stelle ich bei Putin einen Persönlichkeitswandel fest.

profil: Was halten Sie von seiner Kriegsrede? 
Fischer: Das ist eine sehr entlarvende Rede. Man findet manche Antworten darin. Über das Russland, das sich Putin wünscht, seine Geschichtsbetrachtung, sein Politikverständnis. Das war eine gefährliche Rede, und sie hat ihre Gefährlichkeit unmittelbar darauf bewiesen. 

profil: Ich finde sie hoch ideologisch. Putin argumentiert mit einem bestimmten Geschichtsbild und begründet damit den Angriffskrieg. 
Fischer: Es ist Ideologie und Psychologie und macht deutlich, wie er denkt. Er achtet Stalin mehr als Lenin. Er betrachtet Gorbatschow als eine Fehlbesetzung. Man kann nicht sagen, er wolle Stalin nacheifern, aber er hat ordentlich gelernt von Stalin. 

profil: Jene Passagen, wo es um die Wiege Russlands geht und Putin sich zur Schutzmacht aller Russen aufschwingt, erinnert mich an die Argumentation von Adolf Hitler, der alle Deutschen, egal wo sie lebten, ins Reich heimholen wollte. Oder ist der Vergleich zu krass?
Fischer: Die Kiewer Rus spielen unbestritten eine Rolle in der russischen Geschichte. Aber das ist mehr als ein halbes Jahrtausend her. Ich kann heutige territoriale und nationale Fragen nicht aus dem Mittelalter ableiten. Putin ist sicher ein Nationalist. Aber ich halte es für falsch, ihn mit Hitler zu vergleichen. Dass russischer Nationalismus in seinem Denken eine große Rolle spielt, war mir schon immer klar. Dass es zu solchen Ergebnissen führt, damit habe ich nicht gerechnet.

profil: Erwarten Sie eine größere Wirtschaftskrise? 
Fischer: Ich mache den Wirtschaftsexperten keine Konkurrenz. Für Russland wird es sicher schwieriger werden. Auch wenn alle sagen: Russland habe große Vorräte und Reserven angelegt, und die Öleinnahmen sind höher als seit vielen Jahren. Das ist ein sehr kostspieliges Manöver, ein inhumanes Manöver, und eines, das auch der russischen Wirtschaft Schaden zufügen wird. Für Europa und die westliche Welt wird es ebenfalls negative Auswirkungen haben. 

profil: Wann wird wieder ein Gespräch mit Putin möglich sein? Wie funktioniert Diplomatie in solchen Zeiten? 
Fischer: Es macht keinen Sinn, wenn jetzt alle Kanäle und Leitungen gekappt wären. Vielleicht ist das so wie im ganz kleinen privaten Kreis. Man wird in den Tagen nach einer schweren Krise nicht gleich gemeinsam zu Mittag essen gehen. Man muss jetzt Haltung bewahren, schon angesichts der Opfer, die zu beklagen sind. Und man muss einen kühlen Kopf bewahren. Das Vertrauen hat einen schweren Schlag erlitten. Vertrauen kann man nicht aufbauen wie eine Ziegelmauer. Die Russen und alle Beteiligten werden sich anstrengen müssen, wieder langsam Vertrauen zu schaffen. Wir sollten daran denken: Es wird eine Generation nach Putin geben, und die kann nichts für das, was 2022 irrationalerweise passiert ist.

profil: Kann es sein, dass wir in einem halben Jahr eine ukrainische Regierung haben, die von Putin gewünscht und von der EU akzeptiert wird? 
Fischer: Für die nächsten sechs Monate prophezeie ich das nicht. Eine von Putin eingesetzte Regierung würde auch auf einem sehr wackligen Thron sitzen. Ich kann Ihre Frage nicht mit Ja oder Nein beantworten. Aber ich räume der Vernunft noch einen gewissen Stellenwert ein und weiß, dass Krieg weder vernünftig noch populär ist.

profil: Sehen Sie eine Brücke im Denken Putins zum Westen?
Fischer: Europa braucht Russland, und Russland braucht Europa. Gute Politik heißt nicht, die Differenzen, die da sind, zu betonen, sondern das Gemeinsame zu finden. Jetzt erleiden wir einen schweren Rückschlag. Dass das Gedankengebäude im Kopf von Putin zu dem Ergebnis führt, einen militärischen Angriff, einen Krieg gegen die Ukraine zu beginnen, ist schockierend. Dass es in Russland niemanden gibt, der ihn derzeit echt beeinflussen kann, ist entlarvend.

profil: Ein Vorwurf von links lautet, USA und EU seien nicht auf Putins Sicherheitsbedürfnis eingegangen. Hätte man garantiert, dass die Ukraine nicht NATO-Mitglied wird, wäre es nicht zu diesem Krieg gekommen. Glauben Sie das?
Fischer: Das ist nicht nur eine Position mancher Linker. Es gibt amerikanische Politikbeobachter und ehemalige Botschafter, die das so sehen. Ich meine folgendes: Die „Fehler“, wenn man das so nennen will, wurden nicht in den vergangenen Wochen gemacht. Aus meiner Sicht hätte sich die NATO besser nicht darauf berufen sollen, dass bestimmte Zusagen gegenüber Gorbatschow nur mündliche Zusagen und nicht schriftlich gewesen seien. Zusage ist Zusage. Ob die Sicherheitslage in Europa insgesamt besser wäre, wenn man sich in der Osterweiterung der NATO Zurückhaltung auferlegt hätte – das ist eine Frage über die man diskutieren kann.

profil: Frühere Ostblockländer drängten selbst in die NATO. 
Fischer: Das war ihr gutes Recht Aber es ist wohl nicht zwingend geboten, jeden Antrag anzunehmen. Man muss doch abwiegen, ob es der Gesamtsicherheit in Europa dient.

profil: Hatte man Putins Strategie, seine Netzwerke, seine Propaganda zu wenig am Schirm?
Fischer: Das erste Warnsignal, die erste Markierung, die ich wahrgenommen habe, war die Rede, die Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2007 gehalten hat. Deren Inhalt hat man unterschätzt oder falsch eingeschätzt. Man hielt sie für eine Momentaufnahme, eine taktisch begründete Rede. In Wirklichkeit hat Putin dort mit erstaunlicher Präzision und ohne den Sinn seiner Worte zu verdunkeln die Haltung Russlands gegenüber der Ukraine dargelegt. Das Vorgehen in der Krim und in der Ostukraine folgte dieser Strategie. Jetzt hat er den Bogen sehr brutal überspannt. Putin wird nicht in die Geschichte eingehen als jemand, der Russland wieder großgemacht hat, sondern als jemand, der einen Krieg begonnen hat. Ich höre, es gibt Anzeichen, dass auch in Russland trotz harter Polizeigewalt der Widerstand größer ist als Putin das von seinen Mitarbeitern gesagt wird. Ich schätze die russische Bevölkerung so ein, dass ihre Kriegsbereitschaft gering ist und Krieg sich in den Köpfen der Russinnen und Russen als etwas sehr Negatives eingebrannt hat. Ich denke, in der Rechnung Putins sind einige falsche Kalkulationen. 

profil: Erwarten Sie, dass sich der Krieg länger hinzieht? Sollte die Ukraine dann militärisch unterstützt werden? Von den Nicht-Neutralen in der EU? 
Fischer: Ich weiß nicht, wie lang der militärische Widerstand der Ukraine möglich ist. Aber eines weiß ich sicher: Das Thema Ukraine wird nicht in den nächsten Wochen und Monaten von der Tagesordnung verschwinden. Das ist jetzt aufgeladen, in höchstem Maße. Wie immer die weiteren Entwicklungen laufen – günstiger für Russland, weniger günstig für Russland: Es wird ein heißes Eisen bleiben. Da mache ich mir keine Illusionen. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Amtszeit von Putin auf die eine oder andere Art irgendwann zu Ende geht und das Problem Ukraine auch seinen Nachfolger noch sehr intensiv beschäftigen wird. 

profil: Sollte die Ukraine Waffen bekommen?
Fischer: Sie werden von mir nie hören, dass ich militärische Aktionen befürworte. Ich war sehr unangenehm beeindruckt, wie die USA mit gefälschten „BEWEISEN“ militärisch im Irak vorgegangen sind und das dortige, sehr üble Staatsoberhaupt erledigt haben, physisch. Putin wird viele Menschen in ein tragisches Schicksal treiben – und das wird mit seinem Namen verbunden bleiben. 

profil: Aber davon haben die Ukrainer nichts.
Fischer: Wenn Sie von mir ein Rezept hören wollen, wie diese Krankheit zu heilen ist, dann bin ich überfordert. Aber die Europäische Union hat in dieser Zeit die Bewährungsprobe bis jetzt bestanden. Doch Wunder kann sie nicht bewirken.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling