leeres Wartezimmer in einer Arztpraxis
Mentale Gesundheit

Bis 25 in der Kinderpsychiatrie: Neue Verordnung befeuert Wartezeiten

Kinder- und Jugendpsychiater dürfen nun Patient:innen bis 25 Jahren aufnehmen. Doch ein Termin ist jetzt schon schwer – bis unmöglich – zu ergattern.

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Der Frühling gilt als eine kritische Zeit für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Die Natur taut auf, die Sonne strahlt wärmer, gefühlt werden alle aus dem eigenen Umfeld aktiver – außer man selbst. Die Monate Mai und Juni sind auch in Kinder- und Jugendpsychiatrien besonders intensiv.

Diesen Frühling könnte sich die Lage weiter zuspitzen. Prinzipiell geht das aber auf eine durchaus sinnvolle Maßnahme zurück: Seit dieser Woche gilt eine neue Verordnung, die Experten vor allem seit der Covid-Pandemie gefordert hatten. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie dürfen Patient:innen auch nach dem 18. Lebensjahr behandelt werden – nämlich dann, wenn die Krankheitsbilder bereits im Kindes- oder Jugendalter eingetreten sind. Sie müssen jedoch nicht bereits zwingend in Behandlung gewesen sein. Die Verordnung gilt sowohl im stationären als auch im niedergelassenen Bereich.

Verordnung schließt Versorgungslücke

Die seit Mittwoch geltende Regelung ist bereits in einigen Fällen gängige Praxis. Jugendpsychiater behandeln vereinzelt jetzt schon junge Menschen auch nach ihrem 18. Geburtstag weiter, wenn dies notwendig ist. Bisher fand das im rechtsfreien Raum statt.

Junge Menschen fühlen sich in der Erwachsenenpsychiatrie nicht immer gut aufgehoben. Das sagt Hanna Mona Frisch von der Mental Health-Initiative Change for the Youth gegenüber profil. „Uns erzählen viele Über-18-Jährige, dass sie lieber nicht die Rettung für sich selbst oder andere akut Gefährdete anrufen, damit sie nicht in die Erwachsenenpsychiatrie kommen.“ Es mache bei der Behandlung einen großen Unterschied, ob man mitten im Leben stehe oder noch bei den Eltern wohne. Frisch beklagt den fehlenden Rechtsanspruch in der neuen Novelle.

„Ab dem Übertritt ins Erwachsenenalter fallen viele aus dem Gesundheitssystem“, sagt Paul Plener. Er ist Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (ÖGKJP) und leitet die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Medizinischen Universität Wien.

„Wir verlieren vor allem Patientinnen mit Autismus-Spektrum-Störungen und junge Menschen mit aggressivem Verhalten“, führt er aus. Gleichzeitig spielen im Übergang zum jungen Erwachsenenalter die Eltern eine nachrangige Rolle – auf sich alleine gestellt, bitten Betroffene weniger um Hilfe. Deshalb sei es wichtig, dass laufende Behandlungen nicht abrupt mit dem 18. Geburtstag abgebrochen werden. Dies sei auch eine Kostenfrage: Vor der aktuellen Novelle hatten Über-18-Jährige im niedergelassenen Bereich Schwierigkeiten, eine Kostenerstattung ihrer Therapien in der Kinderpsychiatrie von der Sozialversicherung zu erhalten – auch wenn die Psychiater:innen bereit waren, Patientinnen weiter zu behandeln.

Welche Kriterien eine Rolle spielen

Bei der Abwägung, ob ein Patient weiter in der Kinderpsychiatrie behandelt werden muss, oder für die Erwachsenenpsychiatrie bereit ist, spielen Kriterien wie Reife und Selbstständigkeit eine Rolle. Besonders vulnerabel seien „junge Erwachsene, die noch nicht auf eigenen Füßen stehen können“, erklärt Kathrin Sevecke, Direktorin der Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter in Innsbruck und Hall. Sie seien unselbstständiger als ihre Altersgenossen, die Reifung tritt bei ihnen verzögert ein. In den Wiener Kliniken Hietzing und Floridsdorf sowie in Innsbruck existieren bereits psychiatrische Stationen für das Übergangsalter, sogenannte „Transitionspsychiatrien“. Dort ist der Personalschlüssel höher und die gesamte Familie wird bei der Therapie eingebunden.

„Wir wissen, dass in Österreich die Hälfte der stationären Behandlungsplätze fehlen“ sagt Sevecke. Mit der Novelle kommt laut ihren Schätzungen „sicher noch ein Drittel“ dazu. Die ÖGKJP-Vizepräsidentin sieht jedoch auch eine Aufwertung ihres Berufes: „Wir dürfen nun das ganze Spektrum von 0 bis 25 Jahren behandeln.“ Ab dem 18. Lebensjahr liege der Fokus darauf, die Patient:innen auf eine Versorgung in der Erwachsenentherapie vorzubereiten.

Wartezeiten bis zu 90 Tagen

Erstmals wurde zuletzt erhoben, was Betroffene und Eltern seit Jahren beklagen: Kinder und Jugendliche müssen große Mühen auf sich nehmen, um einen Termin beim Psychiater zu bekommen. Die Ärztekammer beauftragte Meinungforscher von Peter Hajek mit einer Wiener Wartezeitstudie. Dabei wurden Praxen mittels Mystery Call, also verdeckten Testanrufen, kontaktiert.

Die Ergebnisse bezeichnet Ärztekammerpräsident Johannes Steinhart am Donnerstag als „erschreckend“. Im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind die Wartezeiten besonders lang. Dort warten Patient:innen im Schnitt ganze 90 Tage auf einen Termin – wenn die Kinder überhaupt aufgenommen werden. Vier von zehn Ordinationen nehmen keine neuen Kinder und Jugendlichen auf – auch nicht, wenn eine Überweisung vom Kinderarzt vorgelegt wird. Dennoch sieht Paul Plener Fortschritte: „Noch vor einigen Jahren gab es in Wien nur fünf niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiatrien.“ Heute gibt es 14 Niederlassungen.

In anderen Bundesländern ist die Lage nicht weniger dramatisch. Auch der stationäre Bereich ist nach wie vor überlastet. „Wir erleben keine Entspannung seit der Pandemie“, sagt Plener. In Innsbruck ist die Situation ähnlich. „Die Lage wird sich auch nicht entspannen“, pflichtet ihm Sevecke bei. In ihrer Klinik warten über 100 Kinder und Jugendliche auf einen stationären Behandlungsplatz. Es sei „ein großer Schmerz“, ihren Eltern und Großeltern am Telefon sagen zu müssen, dass es keinen Platz gebe.

Anstieg Drogentoter bei Jugendlichen

Die Corona-Pandemie offenbarte große Mängel in der psychischen Gesundheitsversorgung. Experten sprechen mittlerweile von Anzeichen psychischer Erkrankungen bei bis zu 40 Prozent aller Jugendlichen. Depressionen, Essstörungen oder Angststörungen sind nach wie vor im Aufschwung. 

Plener beobachtet auch einen stark angestiegenen Drogenkonsum bei seinen Patient:innen. Quer durch die Altersgruppen greifen mehr Menschen zu Drogen und Alkohol als je zuvor – bei Jugendlichen ist der Anstieg am höchsten. Laut einem Drogenbericht des Gesundheitsministeriums aus 2022 zeichnete sich ein deutlicher Anstieg an Todesfällen durch giftige Substanzen ab. 2022 lag die Zahl der Drogentoten in Österreich bei 248. Der Anteil der jüngeren Verstorbenen (unter 25) stieg von 18 Prozent im Jahr 2018 auf 27 Prozent im Jahr 2022.

Der Bedarf an geeigneten Behandlungsmethoden ist so hoch wie nie zuvor, die Kinderpsychiatrien sind österreichweit ausgelastet. Eine psychiatrische Klinik in Niederösterreich sowie eine Wiener Kinderpsychiatrie soll ab dem Sommer auf Container erweitert werden – eine Notlösung. Auch die Salzburger Landeskliniken wollen etwa neue Häuser für die psychiatrische Zentralambulanz und ein Suchthilfezentrum bauen.  

Während die Infrastruktur wächst, fordern Expertinnen wie Sevecke, dringend in mehr Ausbildungsplätze zu investieren und gleichzeitig mehr Stellen zu schaffen. Pilotprojekte wie das sogenannte Home Treatment, bei dem ein professionelles Team bis zu sechs Patientinnen außerhalb des „Hotelbetriebs Klinik“ versorgt, sollten laut Sevecke ebenfalls dringend in die Regelversorgung überführt werden.

In der Zwischenzeit werden Wartelisten für Kinder und Jugendliche immer länger. Nun auch bis zu 25 Jahren.

Elena Crisan

Elena Crisan

Wenn sie nicht gerade für den Newsletter "Ballhausplatz" mit Politiker:innen chattet, schreibt sie im Online-Ressort über Wirtschaft und Politik.