Maßnahmenvollzug: Österreichs heimliches Guantanamo

Der sogenannte Maßnahmenvollzug für besonders gefährliche Rechtsbrecher hat sich zum heimlichen Guantanamo entwickelt: Man kommt leicht hinein und kaum wieder hinaus. Schafft der Justizminister die Reform?

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Michael B., 36, holte die Bücher aus den Schachteln und schlichtete sie in Zweierreihen in die Holzregale: juristische Literatur, theologische Werke, jede Menge Thriller. Die Vorhänge fehlen noch, behaglicher als die Gefängniszelle am Mittersteig ist die winzige Erdgeschosswohnung im 16. Wiener Gemeindebezirk aber allemal. Nur an das Gitter vor dem Küchenfenster muss er sich noch gewöhnen. Er kann es nicht oft genug auf und zu machen. Er träumt es nicht, er ist wirklich frei.

Sechs Jahre Gefängnis hatte der Mann mit den platinblonden Haaren wegen eines Gewaltdelikts bekommen - und eine "Maßnahme“. Der Psychiater, der ihm zunächst nur eine "auffällige Persönlichkeitsstruktur“, aber keine höhergradige Abnormität attestiert hätte, änderte seine Meinung, nachdem B. mit einem anderen U-Häftling in Streit geraten war.

Ticket ohne Wiederkehr

Die Einweisung in eine solche Anstalt kommt in Österreich einem Ticket ohne Wiederkehr gleich. Es ist die härteste Sanktion, die das heimische Strafrecht zu bieten hat. Der Maßnahmenvollzug "für geistig abnorme Rechtsbrecher“ war in den reformfreudigen 1970er-Jahren eingeführt worden, um die Gesellschaft zu schützen und Psychopathen zu helfen. 800 Menschen befinden sich derzeit im Maßnahmenvollzug, etwa die Hälfte davon, weil sie von inneren Stimmen und Wahnvorstellungen zu einem Verbrechen getrieben und nach Paragraf 21 Absatz 1 Strafgesetzbuch verurteilt wurden. Die andere Hälfte, im Justizjargon "Zweier“, war bei der Tat zurechnungsfähig, stand aber unter dem Einfluss einer psychischen Krankheit.

Bis in die 1980er-Jahre pendelte die Zahl der gefährlichen Gewalttäter in der Maßnahme um die 100. Inzwischen sind es acht Mal so viele. Doch nicht die Gesellschaft ist verrückter geworden. Ihr Sicherheitsbedürfnis habe sich vielmehr bis zur Hysterie gesteigert, sagen Experten. "Es verlangt sehr viel Wissen und Erfahrung, die Gefährlichkeit eines Menschen zu beurteilen“, meint die forensische Psychiaterin Gabriele Wörgötter: "Aber heute geht man für die Freiheit des Einzelnen nicht das kleinste Wagnis ein.“

Schon vor Jahren hatte eine Studie des Instituts für Kriminalsoziologie das Desaster aufgearbeitet. An dem Befund, dass man in Österreich zu leicht in die Maßnahme gerät und nur schwer wieder herauskommt, ist seither nicht zu rütteln. 80 Prozent der "Zweier“ bleiben nach Verbüßung ihrer Strafe im Gefängnis, im Schnitt noch fast fünf Jahre lang - und das, obwohl der Maßnahmenvollzug mit Traumrückfallsquoten auftrumpfen kann: Nur ein Fünftel der Entlassenen kommt innerhalb von fünf Jahren erneut hinter Gittern. Im Normalvollzug sind es 60 bis 70 Prozent.

Zarte Anzeichen einer Wende

Die Vollzugsdirektion installierte ein Monitoring und richtete Fachtagungen aus. 2013 konnte der zuständige Beamte Stefan Fuchs zarte Anzeichen einer Wende vermelden: Die Einweisungen gingen leicht zurück, die Entlassungen stiegen, "Anfang Jänner waren erstmals seit vier Jahren weniger als 400 Menschen in der Maßnahme nach Paragraf 21,1.“ Die Zahl der "Zweier“ sank auf 404, ein Jahr zuvor waren es noch um 30 mehr gewesen.

Dennoch bedurfte es eines vernachlässigten Maßnahmen-Häftlings aus Stein und eines Fotos von seinem halb vergammelten Fuß, bis Justizminister Wolfgang Brandstetter echter Reformeifer packte. Er setzte eine Arbeitsgruppe ein. Vergangenen Freitag traf sich das Gremium unter dem Vorsitz von Sektionschef Michael Schwanda zum Feinschliff am Abschlussbericht. Es hatte oft mit der Angst vor den Boulevardzeitungen gerungen, in denen psychisch kranke Täter gerne als abartige Bestien dargestellt werden, die bis zum Sankt Nimmerleinstag weggesperrt gehören.

Zuletzt hatte sich die Arbeitgruppe zu bemerkenswerten Vorschlägen aufgerafft:

- Die Rechte und Pflichten der Untergebrachten sollen in einem eigenen Gesetz geregelt, der Rechtsschutz soll verbessert und ein Patientenanwalt eingerichtet werden.

- Unzurechnungsfähige Verbrecher sollen in "therapeutischen Zentren“ untergebracht werden, die dem Gesundheitswesen unterstehen, wobei für Sektionschef Schwanda in "besonders gefährlichen Fällen auch eine mit der Justiz geteilte Verantwortung denkbar ist“. In den nächsten Monaten wird darüber mit den Ländern verhandelt.

- Der Paragraf 21/2 soll künftig erst bei Verbrechen infrage kommen, die mit mindestens drei Jahren Haft geahndet werden, und nicht wie bisher bereits bei Delikten ab einem Jahr.

Gutachter-Wesen liegt im Argen

Das Niveau von Gutachten, die darüber entscheiden, ob Mörder, Vergewaltiger, Droher und Nötiger eine Einweisung bekommen, soll auf internationalen Standard gehoben werden. Denn just im Land Sigmund Freuds liegt das Gutachter-Wesen etwas im Argen. "Anders als in Deutschland gibt es hier nicht einmal einen Lehrstuhl für Forensik“, klagt Psychiaterin Wörgötter, die seit Langem für eine bessere Ausbildung gerichtlicher Sachverständiger kämpft. Inzwischen wurden eigene Lehrgänge eingerichtet, doch der Anreiz, sie zu absolvieren, bleibt gering, solange forensisch-psychiatrische Befunde schlecht honoriert und gering angesehen werden und Richter jedes noch so schlampige Fachurteil ohne Murren zu den Akten zu nehmen.

Künftig könnten Richter und Staatsanwälte per Weisung angespornt werden, sich auf seriösen Sachverstand zu stützen statt auf gefällige Fließband-Expertisen. Vor allem aber soll der Maßnahmenvollzug auf seine ursprüngliche Dimension zusammenschrumpfen. "80 Prozent der Untergebrachten sind hier nicht richtig“, meint Marianne Schulze, Menschenrechtsexpertin und Mitglied der Reformgruppe im Justizministerium (siehe Interview).

Im oberösterreichischen Asten, wo derzeit 91 Maßnahmen-Patienten untergebracht sind, wird schon jetzt nur noch der Eingang von Unifomierten bewacht. Drinnen gibt es keine Zellen, sondern Wohngruppen. Pfleger, Betreuer, Ergotherapeuten und Anstaltsleiter Martin Kitzberger spazieren in Zivil herum. In die neuen Zubauten sollen 60 weitere Insassen einziehen. Drei Viertel haben eine Schizophrenie-Diagnose: "Petzibub“ stach auf seine schlafende Mutter ein; ein Mann drohte, ein Gericht in die Luft zu sprengen; ein 75-jähriger lebt in dem quälenden Wahn, dass ihm der eigene Bruder das Gewand stehle. Fast alle nehmen Medikamente.

Kochen, putzen, Wäsche waschen

"Einige wären vermutlich nicht hier, wären sie in kritischen Phasen psychosozial betreut gewesen“, sagt Kitzberger. In Asten sollen sie nicht im Krankenlager verdämmern, sondern sich praktisch betätigen: kochen, putzen, Wäsche waschen, Rasen mähen, in der Werkstatt arbeiten. Mit den hoffnungsvollen Fällen erprobt die Anstaltsleitung Vollzugslockerungen. Wenn alles gutgeht, wird die Leine länger, wenn nicht, "holen wir den Patienten zurück, egal, wo er sich gerade befindet und wie spät es ist“, so Kitzberger.

Justizanstalt Wien-Mittersteig: Seit 2004 ist Edda Bolten hier die Leiterin. Die im Haupthaus und in der Außenstelle Floridsdorf untergebrachten 140 Insassen unterscheiden sich von ihren Kollegen in Asten vor allem dadurch, dass sie bei ihren Taten zurechnungsfähig waren. Mehr als die Hälfte sind Sexualtäter, die eine "höhergradige geistige und seelische Abnormität“ zu gefährlichen Zeitgenossen macht. Seit den 1990er-Jahren wird der nicht ganz zeitgemäß formulierte Passus ausgiebig missbraucht. Die Folge: Immer mehr Menschen landen schon mit geringen Anlasstaten im "Zweier“.

Die gelernte Psychotherapeutin Bolten empfängt nicht gern Besucher von außen. "Je mehr wir wahrgenommen werden, desto schwieriger wird unsere Arbeit“, findet sie. Es ist eine mühsame Arbeit, die an den Nerven zerrt, sagt ihre Stellvertreterin: "Wir werden oft beschimpft, und bedroht und bekommen dann zu hören, dass wir das aushalten müssen.“ Man brauche eine dicke Haut.

In den vergangenen Jahren kamen immer mehr "Kurzstrafige“ am Mittersteig an. Einige waren so lange in U-Haft gesessen, dass ihre Strafe schon verbüßt war, als sie den gerichtlich verordneten therapeutischen Teil des Vollzugs antraten. Bis sie eingestuft sind und eine passende Behandlung für sie gefunden ist, dauert es - binnen weniger als vier Jahren kommt hier kaum jemand wieder weg. Am Ende muss sich noch ein Gutachter finden, der einem resozialisierungswilligen Insassen attestiert, dass keine Gefahr mehr von ihm ausgeht. Auch hier soll der Reformhebel ansetzen: Ist die Strafhaft abgesessen, soll es künftig einer besonderen Begründung bedürfen, wenn jemand weiter angehalten werden soll.

Psychiater können nur Wahrscheinlichkeiten bieten

Das ändert jedoch nichts darin, dass die Grenzen zwischen gefährlich und nicht gefährlich nicht mit dem Lineal zu ziehen sind. Psychiater können nur Wahrscheinlichkeiten bieten; die Richter, die ein Mal im Jahr über Verlängerung oder Beendigung einer Maßnahme befinden, wollen eindeutige Antworten: Wird der Kinderschänder wieder zuschlagen? Jeder Freigänger, der jemanden umbringt, macht sämtliche Lockerungen zunichte. Im Vorjahr entließ Anstaltsleiterin Bolten 14 Insassen in die Freiheit. Bisher ist niemand zurückgekehrt. Die Nachricht, dass sich ihr Fachteam, ein Sachverständiger oder das Gericht in einem von ihnen getäuscht hat, könnte jede Sekunde eintreffen: "Es gibt es keine 100-prozentige Sicherheit.“

Die Bevölkerung verlangt aber nach absoluten Gewissheiten. Wer in kein gängiges Schema passt, wird ausgegrenzt“, konstatiert Psychiaterin Wörgötter. Den Preis für gesellschaftliche Repression zahlen Menschen wie der 15-jährige M. Der junge Tiroler hatte das Pech, in traurige Verhältnisse geboren zu werden. Als er mit acht Jahren von seinen überforderten Eltern wegkam, hatte der pummelige Bub schon viel Gewalt erlebt und war intellektuell weit hinter seinen Altersgenossen zurückgeblieben. In einer betreuten Wohngemeinschaft schien er sich zu erfangen, er ging klettern, machte einen Trommelkurs, die Betreuer achteten darauf, dass er seine Medikamente schluckte.

Doch im Dezember 2013 entgleiste der Jugendliche - nicht zum ersten Mal. Er war suizidgefährdet. Am 8. Dezember suchte er die Kinderpsychiatrie in Innsbruck auf. Dort wies man ihn wegen Platzmangels ab. Dasselbe widerfuhr ihm auf der Psychiatrie-Station für Erwachsene. Die Lage eskalierte, als M. mit einem Stock auf einen Erzieher losging. Der Hieb verfehlte sein Ziel, hatte jedoch gravierende Folgen, denn das Landesgericht Innsbruck wies den Buben in den Maßnahmenvollzug ein. Seither wird der Minderjährige auf unbestimmte Zeit in der geschlossenen Forensik-Abteilung in Hall/Tirol zusammen mit erwachsenen, geistig abnormen Rechtsbrechern festgehalten. Im Justizministerium heißt es, ein Platz werde gesucht. Die Wohngemeinschaft, in der M. zuletzt lebte, ist inzwischen geschlossen.

Dass Jugendliche wie M. auf unbestimmte Zeit in einer Maßnahme verschwinden, ist ein schwerer Eingriff. "Ihre Persönlichkeit ist noch nicht abgeschlossen, ein Nachreifen wäre jederzeit möglich. Aus meiner Sicht ist deshalb eine Maßnahme, wenn überhaupt, nur in extremen Ausnahmefällen zulässig“, sagt Wörgötter.

"Gut, er braust ab und zu auf"

Karl Helmreich kennt inzwischen fast alle Facetten des heimischen Maßnahmenvollzugs. Seit zehn Jahren dreht der Chormönch des Stiftes Melk seine Runde: Garsten, Asten, Göllersdorf, Stein, Wohngruppen in Viehhofen und Wels. Elf Leute besucht er regelmäßig in der Haft, mit einer Handvoll verkehrt er schriftlich. Für viele von ihnen ist Helmreich der einzige Draht nach außen. Der Mörder, der seine Erzieherin erstochen hat, sitzt schon mehr als 20 Jahre. Der Mann wäre draußen, auf sich allein gestellt, verloren. Helmreich machte mit ihm ein paar Ausflüge, ansonsten bleibt das Gefängnistor für den Mann fest zu: "Gut, er braust ab und zu auf. Aber ich weiß nicht, wie oft ich an seiner Stelle durchdrehen würde, wenn ich immer in diesem engen Umfeld wäre.“

Michael B. war vermutlich kein ganz einfacher Insasse. Der IT-Fachmann hatte schon mehr als ein Jahr lang in U-Haft verbracht, als er im Dezember 2010 in die Justizanstalt am Mittersteig überstellt wurde. Im ersten Jahr war er noch guter Dinge. Er wollte eine Therapie machen, engagierte sich bei der Insassenzeitung "Blickpunkte“, studierte Theologie, Englisch und schließlich noch Jus. Doch mit den Jahren schwand seine Hoffnung, jemals freizukommen. Er stellte sich darauf ein, den Rest seines Lebens in der Maßnahme zu fristen, wie einige, die er am Mittersteig kennengelernt hatte.

An einem heißen Sommertag im Juni 2014 durfte er seine Haft zum ersten Mal unterbrechen. Als er bei 35 Grad auf der Straße stand, fühlte er sich wie ein Antialkoholiker, der zwei Viertel Wein hinuntergestürzt hatte. Die Reize überfluteten sein Gehirn. Nach zwei Wochen war er froh, in seine vertraute Gefängnisumgebung zurückzukommen. Beim nächsten Ausflug im September fiel ihm das Zurückkommen schon viel schwerer. Sieben Wochen später rief ihn sein Rechtsanwalt Helmut Graupner an: "Wissen Sie es schon? Sie werden entlassen!“

B. sieht sich als "Opfer eines Fehlgutachtens“. Der Psychiater Patrick Frottier, der ihn privat begutachtete, hatte bei ihm keine geistige Abnormität höheren Grades feststellen können. Doch so seltsam es klingt, er ist auch ein Glückspilz: Nur wenige schaffen es, so wie er noch vor dem Ende der Strafhaft aus der Maßnahme zu kommen und durch ein Fenstergitter nach draußen zu schauen, das sich auf- und zumachen lässt: "Jetzt fehlt mir zu meinem Glück nur noch ein Job, von dem ich leben kann.“

FOTOS: PHILIPP HORAK

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Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges