Klaudia Tanner: „Ist Zwang immer das richtige Mittel?“

Von Iris Bonavida
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Frau Ministerin, sollte Österreich bei einem Angriff bewaffneten Widerstand leisten?
Klaudia Tanner
Selbstverständlich müssen wir Österreich zu jeder Zeit schützen und uns verteidigen können.
Sie haben jetzt ohne zu zögern geantwortet. Die Uni Innsbruck hat 3000 Menschen diese Frage gestellt, und nur 26 Prozent sind Ihrer Meinung.
Tanner
Da haben wir einiges zu tun. Aber es hat sich mit Beginn des Ukrainekrieges mit Sicherheit etwas verändert.
Es sind die aktuellsten Zahlen. Der Wehrwille ist in Österreich generell nach wie vor niedrig.
Tanner
Er ist eher niedrig, ja. Das ist so, weil wir uns sehr lange sehr sicher gefühlt haben. Auch weil wir mit unserer Neutralität einen besonderen Status haben. Vielleicht haben wir zu wenig betont, dass wir in der Lage sein müssen, uns zu verteidigen. Übrigens nicht nur militärisch, es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir haben aber gesehen: Die Arbeit unserer Informationsoffiziere und deren Wissensvermittlung in den Schulen haben zu einer leichten Bewegung nach oben geführt.
Ist sich die Bevölkerung ein Stück weit nicht der Gefahren bewusst?
Tanner
Das mag durchaus sein, insbesondere bei Gefahren im Cyberbereich und Desinformationskampagnen aus Russland. Es ist eine Gratwanderung, sich einerseits der Risiken bewusst zu sein, sich darauf vorzubereiten, und sich andererseits nicht zu sehr zu fürchten. Wenn ich unterwegs bin, höre ich ab und zu Mütter, die zu ihren Söhnen sagen: „Mach doch Zivil- statt Grundwehrdienst. Wer weiß, was da alles droht.“ Das würde aber in eine falsche Richtung gehen. Wir sind sicher, wenn wir uns gut vorbereiten.
Es gibt also die Sorge: Oh Gott, mein Kind wird in den Krieg geschickt.
Tanner
Da und dort höre ich so etwas. Es ist wichtig, zu sagen: Wer Frieden und unsere Neutralität erhalten will, der muss sie auch verteidigen können. Aber bei friedenserhaltenden Auslandsmissionen sind unsere Soldatinnen und Soldaten immer freiwillig im Einsatz.
Den Ernstfall zu Ende gedacht, würde es aber schon bedeuten, dass Soldatinnen und Soldaten Österreich mit der Waffe verteidigen müssen.
Tanner
Na sowieso. Dafür werden Soldatinnen und Soldaten ja auch ausgebildet. Aber wir sind kein Angriffsziel. Hier Ängste zu schüren, wäre auch der falsche Weg.
Klaudia Tanner, 55
Tanner ist seit Jänner 2020 Bundesministerin für Landesverteidigung und die erste Frau in dieser Funktion. Davor war sie neun Jahre lang Direktorin des niederösterreichischen Bauernbundes. Seit 2017 ist sie Vize-Parteichefin der ÖVP Niederösterreich.
Experten sagen, dass sich die Wehrbereitschaft auch dann erhöht, wenn sich die Bevölkerung eine Meinung über die Sicherheitslage bildet. Demnach hilft es, wenn die Politik eine Diskussion darüber anregt, ob die Neutralität noch zeitgemäß ist und wie man ein Land am besten schützt. Warum macht es die Politik dann nicht?
Tanner
Ich weiß jetzt nicht genau, wer die Politik ist …
Sie zum Beispiel!
Tanner
Aber wir reden in Permanenz darüber.
In der Vergangenheit wurde die Debatte über die Neutralität kleingehalten.
Tanner
Die Neutralität ist in der Verfassung verankert, eine Mehrheit in der Bevölkerung ist dafür. Wir müssen in der Lage sein, die Neutralität mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen. Seit ich Ministerin bin, konnten wir jedes Jahr das Verteidigungsbudget steigern. Aber wir haben vielleicht zu wenig darüber geredet, dass wir mit dem Beitritt zur Europäischen Union auch ein glaubwürdiger Partner in der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik geworden sind. Wir beteiligen uns zum jetzigen Zeitpunkt bei zwölf Missionen und tun sehr viel, um Frieden zu erhalten.
Also wurde zu wenig besprochen, wie sehr der EU-Beitritt oder verschiedene Kooperationen die Neutralität verändert haben?
Tanner
Ja, darüber müssen wir mehr informieren. Bei Auslandsmissionen kommt oft die Frage: Was machen wir dort als neutraler Staat? Wir erhalten oder sichern den Frieden dort. Lange hat man nicht gesehen, was auf uns zukommen könnte. Und jetzt rückt die Frage der militärischen Landesverteidigung auch ins Zentrum. Wir müssen als EU resilienter werden und uns auf allen Ebenen mit der Frage der Nachrüstung beschäftigen.
Mit der FPÖ propagiert die stimmenstärkste Partei Österreichs eine ganz andere Definition von Neutralität. Demnach dürfte Österreich nicht den ukrainischen Präsidenten einladen oder eng mit der NATO kooperieren. Merkt man nicht daran, wie unklar der Neutralitätsbegriff für die Bevölkerung ist?
Tanner
Ich glaube, die Aussagen in dem Bereich der FPÖ richten sich von selbst.
Aber sie ist sehr erfolgreich damit.
Tanner
Man muss nur in die Vergangenheit blicken, um zu sehen, welche Investitionen unter FPÖ-Ministern im Bundesheer getätigt oder eben unterlassen worden sind. Sie haben darauf vergessen, dass die Neutralität mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen ist. Ich finde es sehr problematisch, bei Sicherheitsthemen parteipolitisches Kleingeld schlagen zu wollen.
Ist es Desinformation, was die FPÖ betreibt?
Tanner
Was Sky Shield anbelangt, ja.
Sie meinen den Luftabwehr-Schirm, der in Kooperation mit anderen EU-Staaten entstehen soll. Die FPÖ behauptet, er sei neutralitätswidrig.
Tanner
Das finde ich unverantwortlich. Den Luftraum zu schützen, ist eine unabdingbar notwendige Aufgabe, auch die neutrale Schweiz ist mit dabei. Hier zu behaupten, dass das völkerrechtlich der Neutralität widersprechen könnte – ich würde einfach sagen, das ist schlichtweg falsch. Aber das Wort Desinformation passt auch.
Bis Herbst soll eine Arbeitsgruppe drei Vorschläge ausarbeiten, wie die Wehrpflicht verbessert werden und die Miliz aus Nebenberufsoldaten regelmäßig üben kann. Gibt es irgendeinen hochrangigen Offizier, der sich nicht für die Verlängerung des Wehrdienstes und verpflichtende Milizübungen ausspricht?
Tanner
Also ich habe jetzt nicht alle gefragt, aber generell sind unsere Offiziere der Meinung, dass wir mehr üben müssen. Daran arbeiten wir, es gibt auch mehr Großübungen. Aber bei der Arbeitsgruppe geht es ja nicht allein um diese Frage. Im Regierungsprogramm steht, dass wir weiterhin die Einsatzbereitschaft garantieren müssen. Man kann den Wehrdienst nicht unabhängig vom Zivildienst sehen, und man muss auch wirtschaftliche und budgetäre Gesichtspunkte betrachten. Darum ist die Kommission sehr breit aufgestellt. Ich möchte ihrem Ergebnis nicht vorgreifen.
Der Leiter der Arbeitsgruppe ist der Milizbeauftragte und Raiffeisen-Generalanwalt Erwin Hameseder. Er hat sich eindeutig für die Verlängerung ausgesprochen.
Tanner
Natürlich sieht der Milizbeauftragte den militärischen Bereich, aber die Kommission betrachtet den Zivildienst mit. Denn wenn man den Grundwehrdienst verlängert, den Zivildienst aber nicht, wohin würde das führen?
Theoretisch könnte man beides verlängern.
Tanner
Aber sehen Sie das positiv, ist Zwang immer das richtige Mittel? Am Ende des Tages ist es eine gesamtgesellschaftliche Frage, die man aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten muss.
Sollte diese Kommission zum Schluss kommen, dass eine Verlängerung und verpflichtende Milizübungen das Beste ist, werden Sie dem zustimmen?
Tanner
Wenn diese drei Vorschläge da sind, werden wir sie als Regierung ergebnisoffen diskutieren. Vielleicht sind ja auch neue Vorschläge dabei, die auf ein völlig neues Modell bauen. Die Lösung ist nicht, etwas wiedereinzuführen, das schon einmal abgeschafft wurde. Die Welt hat sich komplett verändert. Ich bin sehr guter Dinge, dass gute Ideen kommen werden.
Ihr Haus warnt im jährlichen Landesverteidigungsbericht: Wenn nicht regelmäßig geübt wird, muss vor einem Ernstfall eine Übungszeit von zwei Monaten für die Miliz eingeplant werden. Ab 2032 will Österreich in der Lage sein, sich vor einem Angreifer zu verteidigen. Aber wer hätte in so einem Ernstfall zwei Monate Zeit zu üben?
Tanner
Wir haben immer unter Beweis gestellt – Gott sei Dank hat uns nie wer im militärischen Sinne angegriffen –, dass wir binnen kürzester Zeit reagieren können. Gemeint ist in dieser Passage ja der Kriegsfall. Und die Angst wollen wir hoffentlich niemandem machen. Wir bauen auch die Reaktionsmiliz auf, die schnell einsatzbereit sein soll.
Personell ist sie gerade zu einem Drittel besetzt.
Tanner
Sie ist im Aufbau. Man kann sich auf das Bundesheer und unsere Leute verlassen.
In dem Bericht warnt Ihr Haus davor, dass Assistenzeinsätze andere Arbeiten behindern. Der Grenzeinsatz sollte deswegen „alsbald“ beendet werden. Haben Sie das Innenminister Gerhard Karner schon mitgeteilt?
Tanner
Wir sind in einem sehr guten Austausch, und es hat sich einiges getan. Vor einigen Jahren waren 1200 Soldaten im Einsatz, Hunderte von ihnen Grundwehrdiener. Jetzt sind es 564 Soldaten, und kein einziger Grundwehrdiener ist dabei. Aber natürlich gibt es im Innenministerium dafür Verständnis, dass das eine Assistenzaufgabe ist – und nicht unsere Kernaufgabe.
Aber ein komplettes Ende ist nicht in Aussicht, wie es Ihr Haus wünscht?
Tanner
Generell werden Assistenzeinsätze ja nicht von uns, sondern von den Sicherheitsbehörden beziehungsweise Bundesländern angefordert. Je nach Datengrundlage beurteilen wir, ob wir das schaffen. Weil es weniger Aufgriffe an der Grenze gibt, ist der Einsatz auch viel weniger notwendig geworden. Gut für uns, dann können wir uns unseren Kernaufgaben widmen.
Die Wasservorräte könnte ich ein bisschen nachfüllen. Wobei, 60 Liter werden es schon sein.
Klaudia Tanner
über Blackout-Vorbereitungen
Langfristig sollen zwei Prozent des BIP für das Militär ausgegeben werden, die nächsten Budgetverhandlungen stehen für das Jahr 2027 an. Haben Sie sich vom Finanzminister die Zusage geholt, dass der Plan hält?
Tanner
Dieses Ziel steht nicht nur im Regierungsprogramm, sondern auch in einem Ministerratsvortrag. Für das Budget 2027 werden wir neu verhandeln. Aber ich habe überhaupt keinen Grund anzunehmen, dass in der jetzigen sicherheitspolitischen Lage jemand daran rüttelt.
Ist Minister Markus Marterbauer ein Freund des Bundesheeres?
Tanner
Ich gehe davon aus, dass jeder, nicht nur in der Regierung, gesehen hat, was das Bundesheer leistet und dass es hohes Vertrauen in der Bevölkerung genießt. Ich sehe den Budgetverhandlungen durchaus gelassen entgegen.
Die Eurofighter können nur noch bis 2035 fliegen, im nächsten Jahr soll es eine erste Entscheidung für ihre Nachfolge geben …
Tanner
Bis 2026 wollen wir die technischen Planungsarbeiten abgeschlossen haben und klären, was und wie viel Stück davon wir brauchen. Der-zeit gehen wir von 36 Stück aus, die Schweiz hat mit einer ähnlichen Topografie diese Anzahl. Das ist der aktuelle Planungsstand.
Gerade kauft Österreich Leonardo-Jets über Italien – auch weil eine EU-Richtlinie Einkäufe von EWR-Staaten präferiert. Heißt das, die Eurofighter-Nachfolge wird aus Europa kommen?
Tanner
Hier schon in eine Richtung zu gehen, wäre noch viel zu weit gedacht. Aber es gibt generell eine Arbeitsgruppe, es werden Industriekooperationen angestrebt, die Österreich und der österreichischen Wirtschaft etwas bringen und natürlich auch im europäischen Bereich gefunden werden sollen.
Lange waren solche Gegengeschäfte bei Beschaffungsvorgängen aus Sorge vor Korruption verpönt. So ging viel Wertschöpfung verloren. Warum wurde die Arbeitsgruppe erst jetzt eingesetzt?
Tanner
Wir sollten eher in den Vordergrund rücken, was wir an österreichischer Wertschöpfung in den letzten Jahren schon erreicht haben. Wichtig ist es, sich zu überlegen, wie man Arbeitsplätze erhalten und neu schaffen kann. Daher ist es gut, dass sich nun eine Arbeitsgruppe damit beschäftigt, unter anderem mit der Wirtschaftskammer und der Finanzprokuratur. Man kann große Rüstungsgeschäfte transparent abwickeln, damit vermeidet und entkräftet man alle Spekulationen.
Das heißt, Gegengeschäfte gab es auch in den vergangenen Jahren, man nannte sie nur nicht so?
Tanner
Das ist eine Definitionsfrage, was man darunter versteht, ist ja in keinem Gesetz geregelt. Aber wir achten darauf, Wertschöpfung in Österreich zu halten. Die Wannen des Radpanzers Pandur etwa werden in einem kleinen Betrieb in Waidhofen an der Ybbs lackiert, 200 andere Unternehmen sind daran beteiligt. Da kann sich die Wirtschaft aber mit Sicherheit noch mehr einbringen.
Auch militärische Nachrichtendienste sollen die Möglichkeit für eine Art Messenger-Überwachung bekommen.
Tanner
Wir verwenden den Begriff bewusst nicht, weil er nicht stimmt. Es ist eine Änderung des Militärbefugnis-Gesetzes.
Die Nachrichtendienste sollen in ausländische IT-Systeme eindringen können.
Tanner
Wichtig ist zu betonen: Natürlich wird auch weiterhin alles unter strenger Kontrolle passieren. Die Gesetzesänderung ist in Koordinierung.
Werden die Neos, bei denen es vereinzelt Protest gegen die Messenger-Überwachung gab, dabei sein?
Tanner
Ich denke, dass es bald zu einem Beschluss kommen kann. Da mache ich mir keinerlei Sorgen.
Blackouts werden immer wahrscheinlicher. Eine Abschlussfrage dazu: Haben Sie zu Hause ein Kurbelradio und Wasservorräte?
Tanner
Ja, hab ich!
Wie viel Liter?
Tanner
Die Wasservorräte könnte ich ein bisschen nachfüllen. Wobei, 60 Liter werden es schon sein.
Fotos: Martina Berger

Iris Bonavida
ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.