
Hölle neben dem Paradies
Von Saskia Schwaiger
Zwei Themen mögen im Gespräch mit der alten Frau gemieden werden, bitten Angehörige: die Parteinähe ihres Mannes und sein grauenvoller Selbstmord. Darüber spreche Anna Gruber* nicht. Aber spätabends bricht es plötzlich aus der Frau heraus: „Er wollt' uns alle umbringen, die ganze Familie.“ Mit der Erinnerung kommt der Schmerz. Da steht die 85-Jährige, auf ihren Stock gestützt, zerbrechlich, Tränen rinnen lautlos.
Anna Grubers Ehemann war Elektromonteur in St. Georgen an der Gusen, zuständig für Beleuchtung im „Bergkristall“, einem riesigen unterirdischen Montagewerk für die reichsdeutsche Flugzeugproduktion. Tagtäglich erzählt er von der Willkür der SS und Misshandlungen an Häftlingen. Ein gebrochener Mann.
Nach der Befreiung durch die Amerikaner wird auch Gruber eingeteilt, Gruben für unzählige KZ-Tote auszuheben. Er erträgt es nicht, lässt die Familie sich aufstellen, bei den Händen nehmen und schließt zwei Kabel am Transformator kurz – ein Schrei der Jüngsten, und alle fahren auseinander, doch der Vater ist vom Stromschlag tödlich getroffen. „Vier Tage ist er noch gelegen, der Körper eine einzige Wunde“, berichtet Anna Gruber.
Das Lager Gusen, direkt neben der 3500-Seelen-Gemeinde St. Georgen, war die Hölle auf Erden. Immer wieder kamen neue Häftlingstransporte. Zunächst für den Granitabbau, später fürs „Bergkristall“. In der Nacht ist das Geklapper der Holzschlapfen zu hören, wenn die Männer über den Marktplatz gejagt werden. Grelle Scheinwerfer leuchten die Fenster der Wohnhäuser ab, um der Bevölkerung die Sicht zu nehmen. Johann Prinz, 63, war damals zehn. „In der Früh sind dann im Straßengraben die Toten und Halbtoten gelegen.“ Der Vater, gerade auf Fronturlaub, habe einmal aus dem Fenster gebrüllt: „Ihr Hinterlandtachinierer!“ und sei nur um ein Haar den SS-Gewehrsalven entgangen.
Der Vater von Johann Prinz, anfangs Steinmetz im Steinbruch, forderte immer wieder besonders gefährdete Häftlinge für seine Arbeit an, um sie der Willkür der SS zu entreißen.
Widerstand im Kleinen in Gusen
Die Buben trieben sich oft auf den Baustellen herum. Einmal beobachteten sie, wie ein Häftling von einem Kapo mit dem Schaufelstiel totgeschlagen wurde. „Du Schwein, du, hör auf“, haben sie gerufen, und so schreit Prinz heute noch.
In St. Georgen lag die Hölle direkt neben dem Paradies. Als „Klein Paris“ ist das Dorf weit hinauf bis ins „Altreich“ bekannt. Hochrangige Parteigenossen und SS-Wachpersonal lassen sich hier mit ihren Familien nieder. Man veranstaltet Feste, geht ins Kino. Prinz erinnert sich an SS-Reiter: „Wie die Götter ham s' ausgschaut.“ Obwohl die St. Georgener einen gewissen Respektabstand wahren, werden abends die jungen Mädchen hinüber zu den SSlern beordert, um ihnen die Zeit zu versüßen.
Anna Gruber ging manchmal ins Lager, um ihren Mann zu besuchen. „Da san s' gstanden, wie Skelette, und ham uns angschaut. Soviel hungrig warn s'.“ In der Früh, bevor die Häftlinge durch das Dorf getrieben wurden, mussten heruntergefallene Äpfel und Mostbirnen geklaubt werden. Ein Gefangener hätte sich sonst bücken können, um sie aufzuheben. Manchmal blieb eine Birne absichtlich liegen.
Widerstand funktionierte nur im Kleinen: Der Vater von Johann Prinz, anfangs Steinmetz im Steinbruch, forderte immer wieder besonders gefährdete Häftlinge für seine Arbeit an, um sie der Willkür der SS zu entreißen.
Vor dem Einmarsch der Deutschen war ein Drittel der Männer von St. Georgen bei der NSDAP. Viele von ihnen legten innerhalb der nächsten Jahre ihre Mitgliedschaft zurück.
Dann waren endlich die Amerikaner da. Ein Gejohle und Geheule war an diesem 5. Mai vom Lager her zu hören. Wie ein Heuschreckenschwarm fallen die halbverhungerten Häftlinge in die Felder ein, plündern Geschäfte, reißen die Angora-Zuchthäschen der SS aus ihren Zwingern, verschlingen, was ihnen in die Hände fällt. Einige der berüchtigten Kapos liegen irgendwo im Feld, man weiß nicht, wer sie erschlagen hat. Manche Häftlinge bleiben, heiraten. Noch heute finden sich spanische Namen im Dorf.
An der Stelle des berüchtigten Lagers Gusen wurden Einfamilienhäuser gebaut, in den Gärten treibt der Flieder. Samstag nachmittags werden hier Autos geputzt, Kinder flitzen auf ihren bunten Rädern die Straße entlang. Vor allem Voest-Arbeiter sind hergezogen. Die Grundstücke waren billig. Beim Ausheben der Baugruben tauchten hier ein Schuh oder ein halb verrottetes Stück Stoff auf, dort ein Oberschenkelknochen.
Mitten im Wohngebiet standen noch die Krematoriumsöfen. Vergeblich verlangen die Siedler die Verlegung nach Mauthausen.
Jetzt geht die Bevölkerung aus eigenem ans Erinnern: Man sichtet Dokumente, befragt Zeitzeugen, kontaktiert ausländische „Lagergemeinschaften“. Inzwischen wird das von sämtlichen Vereinen der Umgebung unterstützt, es gibt Geschichtsspaziergänge, Diskussionen. „Die Alten waren direkt erleichtert, endlich darüber erzählen zu dürfen“, sagt Rudolf Haunschmied, einer der Initiatoren. Zu einer Filmpräsentation kamen mehr als 400 Leute. In der anschließenden hitzigen Debatte fragte ein Dreizehnjähriger: „Und warum habt ihr uns bisher nichts darüber erzählt?“
*Name von der Redaktion geändert
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Die Reportage von profil-Autorin Saskia Schwaiger erschien am 29. April 1995.