Michael Spindelegger: „Es kann lange dauern“

Der ehemalige ÖVP-Politiker Michael Spindelegger leitet das Zentrum für Entwicklung von Migrationspolitik. Die aktuelle Fluchtbewegung aus der Ukraine ist für ihn mit keiner aus der Vergangenheit zu vergleichen.

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profil: Was geht Ihnen angesichts der zerschossenen Wohnviertel in der Ukraine durch den Kopf?

Spindelegger: Man hat diese Art von Angriffskrieg für ein Relikt der Vergangenheit gehalten, fühlt die Nachbarschaft, sieht zerstörte Häuser, Theater, Schulen, Spitäler. Es war nicht abschätzbar, dass im 21. Jahrhundert jemand ein Land überfällt und mit solchen Methoden versucht, die Herrschaft zu erringen. Jetzt zählt die militärische Schlagkraft, die man entweder hat oder nicht.

profil: Was unterscheidet die aktuelle Fluchtbewegung von jener 2015 und 2016?

Spindelegger: Damals kamen 2,6 Millionen über einen Zeitraum von zwei Jahren, vor allem jungen Männer, die ihre Familien nachholten. Aus der Ukraine sind in den ersten vier Wochen bereits 3,5 Millionen Flüchtlinge in Europa, vor allem Frauen und Kinder. Ob ihre Männer nachkommen, wird man sehen. Diese Krise ist vom Tempo und von der Zahl her mit keiner in den vergangenen Jahrzehnten zu vergleichen.

profil: Auch 2015 gab es anfangs viel Hilfsbereitschaft. Dann kippte die Stimmung, nicht zuletzt befeuert von Sebastian Kurz. Wird auch diesmal die Stimmung kippen?

Spindelegger: Der Umschwung war durch Bilder von den Grenzen ausgelöst, wo man keine Kontrolle mehr hatte. Jetzt ist das anders, sogar in Polen, wo bereits nach vier Wochen 1,9 Millionen Flüchtlinge sind. Man kann nur den Hut ziehen, was man dort mit Unterstützung aus der Bevölkerung leistet.

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profil: Europa setzte erstmals die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie in Kraft. Damit erhalten die Vertriebenen einen Aufenthalt, ohne um Asyl ansuchen zu müssen. Finden Sie das gut, und wäre das 2015 auch schon gut gewesen?

Spindelegger: Obwohl in Syrien Krieg war, kamen damals nur 28 Prozent der Flüchtlinge von dort. Drei Viertel kamen aus dem Irak, aus Afghanistan und anderen Regionen. Darum war klar, dass man nicht für alle einfach ein Aufenthaltsrecht und Bewegungsfreiheit in Europa schafft. Jetzt gibt es zwar auch Flüchtlinge, die auf den Zug aufspringen, aber das ist ein kleiner Teil. Es ist daher richtig, dass man diese Richtlinie nun in Kraft gesetzt hat.

profil: Eine Verteilung der Flüchtlinge sieht sie nicht vor. Polen hatte schon vor dem Krieg zwischen einer und zwei Millionen Arbeitsmigranten aus der Ukraine im Land.

Spindelegger: Die Flüchtlinge dürfen jetzt einmal ein Jahr im Land sein und den Aufenthalt auf bis zu drei Jahre verlängern. Wenn sie in Polen keinen Platz mehr finden, werden sie woanders hinreisen.

profil: Es ist ungewöhnlich für einen Ex-Politiker, dass Sie das gar nicht steuern wollen. Sollen sich die Vertriebenen selbst verteilen?

Spindelegger: Ein Mechanismus wird sich von selbst und ganz pragmatisch ergeben, weil die meisten Ukrainer bestimmte Destinationen im Sinn haben. Anders als 2015 und 2016 haben wir es heute großteils mit Menschen zu tun, die prinzipiell in ihre Heimat zurückwollen.

profil: Die Menschen, die vor sieben Jahren ins Land kamen, waren oft Jahre lang und mit Schleppern unterwegs. Es gab – anders als heute – keine legalen Fluchtwege.

Spindelegger: Natürlich, das ist ein Unterschied. Dazu kommt: Sowohl Asylverfahren als auch der Arbeitsmarkt sind nationale Angelegenheit. Der Vertriebenen-Status aufgrund der erwähnten Massenzustrom-Richtlinie erspart eine Fülle an Administration, weil Asylverfahren wegfallen, und verpflichtet die Staaten nicht, für die Menschen aufzukommen.

profil: In Österreich sind sie in der Grundversorgung.

Spindelegger: Das liegt in der nationalen Zuständigkeit. Wenn wir wollen, dass sie sich schnell selbst erhalten, müssen wir zuerst dafür sorgen, dass sie Zugang zu Gesundheitsversorgung, Kindergärten, Schulen und zum Arbeitsmarkt haben. Eine Mega-Aufgabe. Ich weiß nicht, wie viele schulpflichtige Kinder alleine unter den Flüchtlingen in Polen sind, sicherlich hunderttausende.

profil: Die EU-Kommission hoffte, das Problem mit Geld zu lösen. Aber selbst damit lassen sich nicht unbegrenzt Schulplätze und Wohnungen schaffen. Werden die Nachbarregionen der Ukraine nicht bald überfordert sein?

Spindelegger: Ich war vor drei Wochen an der ukrainisch-ungarischen Grenze. Dort werden Vertriebene medizinisch versorgt, auf Covid und andere Krankheiten getestet und verpflegt. Die meisten ruhen sich bloß eine Nacht aus und fahren weiter nach Italien, Spanien, Österreich, wo sie jemanden kennen. In dem Grenzdorf bleibt kaum jemand. Verteilung ist derzeit nicht das Thema. Natürlich kann Überforderung eintreten, zumal es nicht nach einem Waffenstillstand oder einer Schutzzone in den nächsten Wochen und Monaten aussieht. Es kann lange dauern. Wir müssen uns auf eine längerfristige Fluchtbewegung einstellen. Vielleicht bewegen sich dann auch die Standpunkte bei der Verteilung der Flüchtlinge.

profil: Die Geschichte lehrt, dass anfangs alle zurückwollen, am Ende es aber nur 10 bis 15 Prozent machen.

Spindelegger: Unsere Erfahrungen sind: Nach zwei Jahren beginnt man sich im Aufnahmeland zu orientieren und es verfestigt sich der Gedanke, hier etwas Neues aufbauen, vor allem, wenn es Kinder gibt. Damit werden enorme Herausforderungen einhergehen. So wird es etwa nicht einfach, das Lehrpersonal auf die Beine zu stellen, um den Spracherwerb zu fördern. Wer kann schon Ukrainisch oder Russisch?

profil: Wir reden bereits von Integration am Arbeitsmarkt. Möglicherweise gibt es bald viele alleinerziehende Kriegswitwen. Müssen sie nicht erst zur Ruhe kommen und Verluste bewältigen?

Spindelegger: Ganz sicher, und da helfen vor allem die ukrainischen Communities. Dennoch muss man sofort mit der Integration beginnen. Auch wenn man nur zwei Jahre hier ist, schadet es nicht, Arbeit zu haben und sich zu integrieren. Davon abgesehen, eine Mutter mit drei Kindern kann nicht morgen in einem Betrieb anfangen, selbst wenn man die Kinderbetreuung organisiert. Sie muss erst einmal die Sprache erlernen.

profil: Bisher wurden über 20.000 Geflüchtete in Österreich registriert. Sobald sie mehr als 100 Euro im Monat verdienen, verlieren sie die Grundversorgung. Sollte man solche Hemmnisse wegräumen?

Spindelegger: Man sollte aus Fehlern lernen. Aktuell kommt uns zugute, dass der Arbeitsmarkt in vielen europäischen Ländern aufnahmefähig ist und die Flüchtlinge prinzipiell gewillt sind, für ihre Existenzsicherung zu arbeiten.

profil: Anfang der 1990-er Jahre kamen bosnische Flüchtlinge während eines Wirtschaftsaufschwungs und lösten einen Nachfrageschub aus. Jetzt tauchen wir aus einer Pandemie auf, die Inflation steigt, was bedeutet das für die Integration?

Spindelegger: Wir werden die Folgen der Sanktionen gegen Russland und der schlechten Gasversorgung spüren. Umso mehr sollten wir die Zeit nützen, jenen, die arbeiten wollen, das rasch zu ermöglichen. Dazu gehört neben Spracherwerb und Ausbildung auch fachliche Hilfe bei Traumatisierung. Die Menschen kommen aus zerbombten Städten, durch unsichere Fluchtkorridore, der Betreuungsaufwand wird höher sein als bei der ersten Welle...

profil: … bei der zunächst die städtische, mobile Bildungsschicht aufgebrochen ist, die vielleicht bereits Ausland studiert oder gearbeitet hat?

Spindelegger: Genau, während jetzt zunehmend jene kommen, die nie außer Landes wollten, aber schon sehr unter dem Krieg leiden.

profil: Die Ukraine hatte ein gutes Bildungssystem. Sollte man die Integrationsvoraussetzungen lockern und neben Deutsch auch Englisch anerkennen?

Spindelegger: Man sollte sich – in Abstimmung mit den Unternehmen - daran orientieren, was man von staatlicher Seite will, nämlich einen schnellen Einstieg am Arbeitsmarkt. Vor allem hier findet die tägliche Integration statt, wenn man mit Kollegen zusammen ist und mitkriegt, wie es in einem Land zugeht.

profil: In den aktuellen Debatten geht es vor allem darum, wie der Krieg zu gewinnen ist. Müsste es nicht viel mehr darum gehen, wie er zu beenden ist?

Spindelegger: Russland hat ein Veto-Recht beim UN-Sicherheitsrat. Eine Verurteilung durch den Sicherheitsrat und die Entsendung von Friedenstruppen sind damit praktisch unmöglich. Militärisches Eingreifen sehe ich nicht als Möglichkeit, nachdem die NATO erklärt hat, sich nicht in diesen Kampf zu involvieren. Der Konflikt wird vor sich hintreiben. Angesichts der russischen Übermacht ist es eine Frage der Zeit, bis sie Stück für Stück vorankommt.

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profil: Gerade weil die Aussichten so niederdrückend sind: Strengt sich Europa diplomatisch und politisch genug an, um Frieden zu schaffen?

Spindelegger: Europa ist klar auf der Seite der Ukraine. Die diplomatischen Möglichkeiten, die Russen an den Verhandlungstisch zu bringen, sind beschränkt. Man hat versucht, das über China zu spielen. Israel bemüht sich, auch die Türkei. Irgendwann wird das hoffentlich fruchten.

profil: Sie waren nach Ihrem Ausstieg aus der Politik Leiter eines vom ukrainischen Oligarchen Dmytro Firtasch finanzierten Think Tanks...

Spindelegger: … das war kein Firtasch-Think Tank, sondern eine von den Sozialpartnern der Ukraine getragene Reforminitiative. Wir haben 256 Maßnahmen zur Modernisierung des Landes vorgeschlagen; das war vor sieben Jahren.

profil: Hätte die Geschichte eine andere Wendung nehmen können, wären sie umgesetzt worden?

Spindelegger: Die Ukraine sollte ein vollwertiges Assoziierungsmitglied der EU werden, im Rahmen der östlichen Partnerschaft, gemeinsam mit Moldawien, Belarus und den drei Südkaukasus-Staaten. Die Idee war, dass das Land zu einem Standort wird, an dem europäische Unternehmen mit qualifizierten Arbeitnehmern produzieren und die Waren zollfrei in die EU einführen. Das hätte der Ukraine Aufschwung und Wohlstand gebracht. Ich habe das Finanzkapitel geschrieben, es gab noch viele andere: Gerichtsbarkeit, Korruption.

profil: Sie kennen die Ukraine von damals also recht gut.

Spindelegger: Ich war oft dort, in den Prozess waren aber noch viele andere Persönlichkeiten involviert. Günter Verheugen etwa, der frühere Vizepräsident der EU-Kommission, hat sich um den europäischen Teil gekümmert. In unserem Bericht finden Sie auch, dass die Ukraine ein Land der Oligarchen ist und vor allem deshalb nichts weitergeht.

Der 62-jährige, gebürtige Niederösterreicher Michael Spindelegger war von 2008 bis 2013 ÖVP-Außenminister, ab 2011 auch Vizekanzler und ÖVP-Parteiobmann, ab 2013 bis zu seinem Rücktritt 2014 Finanzminister. Seit 2016 leitet Spindelegger das in Wien angesiedelte „International Centre for Migration Policy Development“ (ICMPD). Die Organisation (340 Mitarbeiter) wird von 18 Mitgliedsstaaten getragen und bündelt Forschung, Projekte und politische Grundlagenarbeit zum Thema Migration.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges