Seit 14 Tagen sind der neue Bundeskanzler Karl Nehammer und sein Team im Amt.
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Neue Kanzler-Töne

Das Vertrauen in die Politik ist in Österreich im Keller. Kann es Neo-Kanzler Karl Nehammer zurückgewinnen? Und wie viel Zeit hat er dafür?

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Es ist fast 100 Jahre her: Im Winter 1933 zog Franklin D. Roosevelt als 32. US-Präsident ins Weiße Haus ein – mitten in der verheerenden Weltwirtschaftskrise, als Massenarbeitslosigkeit und Pleitewellen grassierten. Roosevelt bat damals Bevölkerung und Medien um 100 Tage Schonfrist. Erst danach sollte sein Reformprogramm „New Deal“, eine Mischung aus Wirtschafts- und Sozialgoodies, beurteilt werden. Diese Roosevelt-Regel ist heute längst Geschichte. 100 Tage Einarbeitungszeit werden in der Spitzenpolitik niemand mehr zugestanden – aus verflixt guten Gründen, die Zeiten sind schneller geworden, wie die Rohrpost stammt auch die 100-Tage-Regel aus dem vorigen Jahrhundert.

Heute dreht sich die Aufregungsspirale schneller und schneller. Die Politik hat sich rasant beschleunigt, im Fachjargon „instant democracy“ genannt. Das höhere Tempo tut der Politik nicht immer gut, im Gegenteil: Politikerinnen und Politiker müssen immer rascher Meinungen zu immer komplexeren Themen präsentieren, wer nachdenkt, kommt für die Aufregung des Tages zu spät. Das Ergebnis: Inhaltsleere Sätze mit austauschbaren Text-Bausteinen, der Stoff, aus dem Politikverdrossenheit gemacht ist.

Wie lange also im Jahr 2021 Zeit geben, wie lange Schonfrist gewähren, bis das erste Urteil fällt? Der neue Bundeskanzler Karl Nehammer und sein Team sind 14 Tage im Amt. Eine zu kurze Zeit, um fundierte Bilanz zu ziehen – aber erste Signale fallen auf: Es dringen neue Töne aus dem Kanzleramt. „Gecko“ ist eingerichtet, eine Gruppe von Expertinnen und Experten, die das Corona-Krisenmanagement koordiniert. Mehr faktenbasierte Politik kann Österreich, das Land, in dem Landeshauptleute Wissenschafter verhöhnen, nur gut tun. Oder, anderes Beispiel: Nehammer dankt öffentlich den Initiatoren des Lichtermeeres – einem ruhigen Gegenpunkt zu den schrillen Anti-Corona-Demonstrationen, auf denen Unfug geschwurbelt wird (unser famoses Faktencheck-Team lässt Humbug nicht durchgehen, siehe etwa „Mit falschen Zahlen gegen die Kinderimpfung“).

Gerade weil die Stimmung aufgeheizt ist, fallen die neuen Töne aus dem Kanzleramt auf. Hat da jemand womöglich eine Lektion gelernt und versucht, zu verbinden statt zu spalten? Es wäre höchste Zeit. Das Meinungsforschungsinstitut Sora vermisst seit Jahren das Vertrauen in die Demokratie. Mitte Dezember waren sechs von zehn Menschen überzeugt, dass das politische System in Österreich „weniger“ oder „gar nicht gut“ funktioniert. Das ist der tiefste jemals gemessene Wert.

Wie den großen Corona-Graben überwinden? Edith Meinhart analysiert im aktuellen profil, wie die Spaltung gekittet werden kann. Leicht wird das nicht: Die neue Corona-Variante Omikron verbreitet sich in Österreich rasant. Viel Zeit hat die halb-neue Regierung nicht, verspieltes Vertrauen zurückzugewinnen – auf keinen Fall bis Mitte März. Erst da wäre, nach der Roosevelt-Regel, ihr 100-Tage-Schonfrist vorbei.

Haben Sie einen gelassenen Dienstag!

Eva Linsinger

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Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin