Das Nachbeben: Fünf Thesen zur Neuordnung der Parteienlandschaft

Die Episode von Sebastian Kurz ist vorbei. Er hinterlässt seinem Nachfolger Karl Nehammer eine konfuse Partei im Umfragetief.

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1. Wirtschaftspartei ohne Wirtschaft

Die drei derzeit dominanten innenpolitischen Themen lauten: 1. Teuerung. 2. Teuerung. 3. Teuerung. Die Inflation klettert auf immer neue Höhen, die größten Wohlstandsverluste seit 1955 stehen bevor, Energiepreise explodieren, Einkaufen und Tanken kosten, zudem drohen Krieg und Energiekrise das Wirtschaftswachstum abzuwürgen, bis hin zur Rezession. Das wäre eigentlich eine Gemengelage, in der eine Wirtschaftspartei wie die ÖVP perfekt ihre Kernkompetenz ausspielen könnte. Betonung auf: könnte. Denn die Zeiten, als ein Wirtschaftsminister wie Wolfgang Schüssel oder Reinhold Mitterlehner zum ÖVP-Obmann aufstieg, als ein Ex-Unternehmer wie Martin Bartenstein als Minister kantige Standortpolitik betrieb, sind lange vorbei. Die Parteifarbe wechselte von Schwarz auf Türkis, als inhaltliches Ziel-1-Gebiet galten Sicherheit, Migration und Asyl – Wirtschaft rangierte irgendwo unter „ferner liefen“. Das wirkte kontraproduktiv: Mit Getöse wurden etwa Lehrlinge aus Afghanistan abgeschoben, nun sucht die Wirtschaft händeringend Fachkräfte.

Und die Prioritätensetzung rächt sich jetzt. Denn die harsche Law-and-Border-Politik ist Geschichte, ukrainische Flüchtlinge sind willkommen – und Wirtschaftskapazunder in den eigenen Reihen fehlen. Aus dieser Not entspringen undurchdachte Vorschläge wie jener, Gewinne von Energieunternehmen abzuschöpfen: eine Kanzler-Idee, die in der ÖVP für Entsetzen sorgte. Es spricht Bände, dass ausgerechnet die ehemalige Wirtschaftspartei ÖVP das Wirtschaftsressort mit einem parteifreien Quereinsteiger besetzt – dem Experten und bisherigen Arbeitsminister Martin Kocher. Eine Rochade nicht ohne Risiko: Ökonom Kocher verfügt zweifellos über Fachwissen und kompetentes Auftreten. Ob der langjährige Theoretiker Kocher allerdings in der Praxis politische Gestaltungskraft entwickelt, ist fraglich. Leicht hat er es ohne Anbindung an Wirtschaftskammer, Industriellenvereinigung und Co jedenfalls nicht. Und die Erwartungshaltung der Wählerschaft auf rasche Maßnahmen gegen die Teuerung ist hoch – SPÖ und FPÖ können den Unmut für Zugewinne nutzen.

2. Nehammer allein zu Hause

Wenn unter Kanzler und Parteiobmann Sebastian Kurz die Wahlkampfkosten entglitten, die Corona-Infektionszahlen explodierten oder sonstiges Ungemach drohte, dann rückten treue Gefolgsleute wie Gernot Blümel, Elisabeth Köstinger oder Karl Nehammer aus. Verteidigten den „Chef“, setzten Ablenkungsmanöver oder lenkten den Zorn auf sich. Kanzler und Parteiobmann Karl Nehammer hat in Regierungsteam und Partei kaum Mitstreiter für derartige Assistenzeinsätze. Minister wie Magnus Brunner (Finanzen) oder Susanne Raab (Integration, Frauen) blieben bisher blass und kommentieren nur Themen ihres Ressorts, Generalsekretärin Laura Sachslehner ist unerfahren. Die Konsequenz: Nehammer muss zu oft selbst aufs politische Schlachtfeld und verlässt es selten ohne Blessuren. Auch deshalb konnte er bisher keinen Kanzlerbonus entwickeln. Vom neuen Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig ist ebenfalls wenig Unterstützung zu erwarten; und von den Staatssekretären Florian Tursky (Digitalisierung) und Susanne Kraus-Winkler (Tourismus) schon gar nicht.

3. Macht ohne Pracht

Als Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger vergangenen Montag ihren Rücktritt verkündete, befand sich Johanna Mikl-Leitner im Anflug auf Wien-Schwechat. Die niederösterreichische Landeshauptfrau hatte mit einer hochrangigen Wirtschaftsdelegation mehrere US-Bundesstaaten besucht. Am Boden der innenpolitischen Realität angekommen, war Mikl-Leitner ziemlich konsterniert ob Köstingers Abgang, gefolgt vom Aus für Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck. Manche Vertreter der Volkspartei-NÖ sollen regelrecht getobt haben.

Der überraschende Rücktritt wenige Tage vor dem Parteitag in Graz wird als Verrat am neuen Obmann Karl Nehammer gewertet. Von diesem erwarten sich Mikl-Leitner und die anderen schwarzen Landesobleute zwei Dinge: dass er die Partei nach dem Stress der vergangenen Monate wieder beruhigt; und dass er möglichst das tut, was sie von ihm verlangen. Vier Landeschefs haben nächstes Jahr Landtagswahlen zu schlagen. Im SPÖ-regierten Kärnten spielt die ÖVP nur eine Nebenrolle. In Niederösterreich, Salzburg und Tirol müssen die Landeshauptleute Mikl-Leitner, Wilfried Haslauer und Günther Platter dagegen Top-Ergebnisse verteidigen. Mikl-Leitner droht der Verlust der absoluten Mandatsmehrheit. 2018 hatte sie 49,6 Prozent erreicht. Derzeit liegt die ÖVP-NÖ laut einer „Kurier“-OGM-Umfrage bei 42 Prozent. Auch Haslauer (2018: 37,8 Prozent) und Platter (44,3 Prozent) werden ihre Zuwächse aus dem Jahr 2018 zumindest teilweise wieder verlieren. Damals hatte Neo-Kanzler Sebastian Kurz viele Stimmen gebracht. Nach seinem unrühmlichen Abgang dürfen die Landesparteien nicht mehr mit Schub aus der Bundespolitik rechnen. Die ironische Situation: In der ÖVP sind die Landeshauptleute wieder stärker geworden, in ihren Ländern dürften sie nach den Wahlen 2023 geschwächt sein. Und einer von ihnen, Vorarlbergs Landeshauptmann Markus Wallner, ringt nach dem Skandal um Inseratenkorruption um sein politisches Überleben.

profil am ÖVP-Parteitag:

4. Weltenschmerz

Vergangene Woche gelang der ÖVP-Grünen-Koalition ein politischer Befähigungsnachweis. Gesundheits- und Sozialminister Johannes Rauch präsentierte die lang erwartete Pflegereform. Das Paket beinhaltet höhere Löhne für angestellte Pflegerinnen und Pfleger, bessere Arbeitsbedingungen, mehr Unterstützung für pflegende Angehörige sowie die Attraktivierung der Pflege-Ausbildung. In Summe lässt sich der Bund die Reform eine Milliarde Euro kosten.

Ansonsten ist von der Ankündigung der türkis-grünen Koalition, das Beste aus beiden Welten zu vereinen, nicht viel übrig geblieben. Am deutlichsten werden die Friktionen im laufenden ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschuss. Wie schon im Ibiza-U-Ausschuss sehen die grünen Abgeordneten keinen Grund, den Koalitionspartner zu schonen.

Die türkise Parteispitze hat mit der Obmannschaft von Kurz mittlerweile abgeschlossen. Im Parlamentsklub – viele Abgeordnete verdanken Kurz ihr Mandat – ist das Verhalten der grünen Parteispitze noch nicht vergessen. Im Oktober hatten Parteichef Werner Kogler und Klubobfrau Sigrid Maurer ultimativ den Rücktritt von Sebastian Kurz und eine „untadelige Person“ als ÖVP-Kanzler gefordert.

In ihren Tiefenstrukturen sind die beiden Parteien nicht kompatibel. Der klassische ÖVP-Wähler steht nach wie vor für Familie, Eigentum, Kfz und Vereinsleben. Urbane Grün-Sympathisanten existieren in einer anderen Welt: Umwelt, Sharing, Fahrrad und (Alternativ-)Kultur. Die Stabilität eines derart diversen Bündnisses hängt von den Spitzenleuten ab. Ganz oben funktioniert die Koalition. Zwischen Kanzler Karl Nehammer und seinem Vize Werner Kogler herrscht gutes Einvernehmen.

5. Versteinerte Regierungspartei

Seit 1986 ist die ÖVP durchgehend Regierungspartei. Von Februar 2000 bis Jänner 2007 sowie seit Dezember 2017 stellt sie den Kanzler. Da die SPÖ bereits 1986 eine Koalition mit der FPÖ ausschloss, war eine Regierungsmehrheit im Parlament immer nur unter Einbindung der ÖVP möglich. Eine linke Mehrheit aus SPÖ und Grünen gab es im Bund nie. Seit die NEOS als bürgerliche Alternative 2013 mit fünf Prozent in den Nationalrat einzogen, träumt die SPÖ von einer Dreier-Koalition. Laut aktueller profil-Umfrage kommen SPÖ, Grüne und NEOS derzeit gemeinsam auf 50 Prozent, zu knapp für eine auch nur einigermaßen stabile Mandatsmehrheit. Ohne signifikante Wählerbewegungen von der ÖVP zu Rot, Grün oder Pink wird Türkis auch nach der nächsten Wahl Regierungspartei bleiben.

Allerdings: Bis zur nächsten Wahl kann es noch zweieinhalb Jahre dauern – falls diese Regierung ausnahmsweise die gesamte Legislaturperiode hält.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.