Schwarmbrutalität

#Ohrenzieher: Wie ein "Presse"-Kommentar eine Fatwa auslöste

Kommentar. Wie ein "Presse"-Kommentar eine Fatwa auslöste

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Vergangene Woche erläuterte „Presse“-Redakteur Wolfgang Greber in einem Kommentar sein persönliches Pädagogikkonzept: „In homöopathischen Dosen“ sei die Züchtigung von Kindern gerechtfertigt, als „Ultima Ratio“ stehe er zum „nicht festen Ohrenzieher“, die „g’sunde Watschn“ lehne er strikt ab. Seine Handlungsanleitungen bettete der Autor in einen kitschigen Text über sein „fröhliches und aufgewecktes Bübchen“ („Betritt er einen Raum, ist er nicht bloß da, sondern erscheint wie ein Licht“), garniert mit belehrendem Spott über „doofe antiautoritäre Erziehung“ und politische Korrektheit. Der Autor hat die Zeit übersehen. Seit 25 Jahren gilt in Österreich ein Gesetz, das ein absolutes Gewaltverbot in der Kindererziehung normiert.

Wer schreiben will, muss fühlen: In den sozialen Medien zog über Greber eine Riesenerregungswelle („Shitstorm“) hinweg: Beschimpfungen, Forderungen nach seiner Entlassung, Rufe nach der Justiz, Vergleiche mit Fritzl & Priklopil, Drohungen, Anzeigen. Der Autor Thomas Glavinic bat um Beihilfe zur physischen Abstrafung des Redakteurs. Woran eine Mahnwache vor der „Presse“-Redaktion scheiterte, ist unklar. Die Lichterketten steckten wahrscheinlich im Adventeinsatz fest.

Dass der Shitstorm derartig an Fahrt aufnahm, lag an der Medienmacht des Armin Wolf. Was der „ZiB 2“-Star auf Facebook und Twitter absetzt, verbreitet sich dank seiner Hunderttausenden Follower & Friends viral. Mit Armin Wolfs Fatwa in Wort und Bild war Grebers Schicksal besiegelt: Zu mehreren Tweets über den „Presse“-Autor („Der Mann ist nicht in der Lage, einen Dreijährigen ohne körperliche Gewalt zu erziehen. Was für ein Armutszeugnis“) postete Wolf in schrillster Überzeichnung ein Sujet aus einer Anti-Gewalt-Kampagne, das einen Vater mit hoch erhobener Hand vor einem zitternden Buben zeigt. Und auf Facebook steuerte er am eigenen Leib erfahrene Erlebnisse („Ich weiß, wovon ich rede“) aus seiner Kindheit bei.

Bekenntnisse wie diese machen den exhibitionistischen Charakter sozialer Medien aus. Und sie entfalten Keulenwirkung: Das Intim-Testimonial in eigener Sache erhöhte die moralische Position des Anklägers Wolf gegenüber dem Angeklagten Greber, bei dem sich nur noch die Frage des Strafausmaßes stellte.

Twitter ist, wenn 50 prominente, semiprominente und kaum prominente Medien-, Kommunikations- und Kulturbetriebler digitalen Gruppensex haben, zehntausend andere dabei zuschauen und bisweilen mitkommentieren dürfen; wenn schon alles getwittert wurde, nur noch nicht von allen; wenn im Fall „Greber“ nach Profis wie Thomas Glavinic noch ein paar tausend Amateure reinen Gewissens fordern dürfen: „Hängt ihn höher!“

Die Schwarmbrutalität, die von Twitter ausgeht, lässt sich auf dem Fußballplatz studieren. Im Pulk mit zehntausend anderen brüllt es sich leicht. Noch leichter brüllt es sich gegen einen Einzelnen. Am leichtesten aber brüllt es sich gegen einen Einzelnen, der sich das exponierte Amt eines Schiedsrichters/Kommentators anmaßt und prompt falsch pfeift/kommentiert. Greber wird von der Masse auch deswegen faschiert, weil er dank eines „Presse“-Dienstvertrags ein privilegierter Schreibtischtäter ist. Der hundertfache Vorwurf, er verharmlose oder fördere mit seinem Kommentar schwerste Kindesmisshandlung, ist schlicht verrückt. Wer nur noch soziale Medien konsumiert, verlernt offenbar, sinnerfassend zu lesen.

Im Twitter-Wesen ist aggressive Leser-Rückmeldung das Berufsrisiko des Journalisten: If you can’t stand the shitstorm, leave the toilet! Irritierend ist die neue Gnadenlosigkeit. Greber ist – wenn überhaupt – eben nur Schreibtischtäter. Der Tod eines durch eine siedend-heiße Strafdusche malträtierten Mädchens löste in der Wiener Twitter-Bubble evidentermaßen weniger Furor aus als Grebers Text. Diese wahre Tragödie wurde in anderen Foren abgehandelt – wo schlechter verdient und gelebt wird: in den Leserbriefspalten von „Heute“ und „Krone“. Die einzige Gemeinsamkeit der Fälle bestand in der Kritik an der mangelnden Härte des Staatsanwalts gegenüber dem jeweiligen Kindsvater.

Der „Zeit“-Autor Harald Martenstein entwarf in einer seiner jüngsten Kolumnen „Zehn Gebote für alle Internet-User“. Die ersten drei: „Du sollst dich nicht immer gleich aufregen. Du sollst berücksichtigen, dass kein Mensch perfekt ist, auch du nicht. Du sollst anderen die Möglichkeit geben, Fehler zu machen und daraus zu lernen.“

Die „Presse“ entschuldigte sich demütigst, der Autor ebenso, der Shitstorm legte sich aber nicht. Die Erkenntnis aus #Ohrenzieher: Gewalt kann auch in 140 Zeichen angewandt werden.

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Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.