Gesundheitsminister Rudolf Anschober ist nicht zufrieden
Coronavirus

Pflegeheime: Politik schafft es nicht, Risikogruppen vor dem Coronavirus zu schützen

Weil die Zahl der Corona-Infektionen weiter steigt, wird Österreich in einen noch härteren Lockdown geschickt. Schuld daran ist auch das Versagen der Politik: Noch immer gelingt es nicht, die Risikogruppe in den Pflegeheimen zu schützen.

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Es war Sommer, die Pandemie schien weitgehend unter Kontrolle, die Aussichten gaben Grund zu Optimismus: Man habe derzeit zwar ein "Problem mit dem Risikobewusstsein der Jungen", erklärte Gesundheitsminister Rudi Anschober am 5. August bei der Präsentation einer Studie. Dafür gebe es einen "guten Schutz der Alten". In den Alten- und Pflegeheimen seien aktuell nur sieben Bewohner und 19 Mitarbeiter infiziert, sagte Anschober. "Jetzt haben wir Zeit, um uns auf den Herbst vorzubereiten."

Drei Monate später ist die Zuversicht dahin. Am 8. November meldete das Gesundheitsministerium über 1500 infizierte Altenheimbewohner. Am vergangenen Freitag lag der Wert bereits bei fast 2000. Das sind mehr als doppelt so viele wie im Frühling. Rund 260 Heimbewohner starben in den vergangenen drei Wochen. Offenbar klappte die Vorbereitung auf den Herbst nicht nach Wunsch.

Wenn unter insgesamt 80.000 aktuellen Corona-Fällen rund 2000 Bewohner von Pflegeheimen sind, mag sich das nicht nach viel anhören. Aber ein paar Tausend Infizierte in diesem Umfeld sind für den Pandemieverlauf bedeutsamer als tägliche Rekordwerte in anderen Bevölkerungsgruppen. Für alte und gebrechliche Menschen stellt Corona tatsächlich ein Killervirus dar. Rund die Hälfte aller Covid-19-Toten der ersten Welle in Europa lebte in Pflegeheimen. In Österreich hatten sich bis 22. Juni insgesamt 923 Heimbewohner mit dem Virus infiziert-260 waren gestorben. Das entsprach damals ziemlich genau einem Drittel aller Covid-Todesfälle im Land. Wie viele Pflegefälle außerhalb von Heimen starben, wurde nicht erfasst. Auch diese Zahl dürfte hoch sein.

Seit Beginn der Pandemie plädieren einige Experten dafür, hauptsächlich die Risikogruppen zu schützen, statt wahllos alle Bürger in die Pflicht zu nehmen. Sie wurden nicht gehört. Weil die seit Anfang November geltenden Maßnahmen nicht zu einer Senkung der Infektionszahlen führten, wird es jetzt wohl zu einer Neuauflage des März-Lockdowns kommen. Zu Redaktionsschluss (Anm.: 13.11.) waren die Details noch unbestätigt. Neuerlich geschlossen werden dürften aber Handel und Dienstleistungsbetriebe mit Ausnahme von Supermärkten, Apotheken, Banken und Postfilialen sowie, trotz massiver Proteste von Eltern und sehr vielen Experten, auch die Schulen. Österreichs Kinder müssen also wohl schon wieder für die Versäumnisse der Politik büßen.

Teilweise befinden sich die Bewohner in einem finalen Stadium ihres Lebens. Das Virus beschleunigt diese Phase. (Petra Prattes, Caritas Steiermark)

Das Virus könne jeden schwer treffen und ins Krankenhaus befördern, sagt der Gesundheitsminister seit Monaten. Theoretisch stimmt das. Aber die täglich von den Bundesländern gemeldeten Todesfälle machen die Risikoverteilung doch sehr deutlich. Nur ein paar Beispiele vom Montag vergangener Woche: Das Burgenland meldete vier Todesopfer-zwei Frauen im Alter von 97 und 86 Jahren sowie zwei Männer im Alter von 79 und 85. In Niederösterreich waren die Toten 82,94 und 100 Jahre alt, in Kärnten 88 und 83. Die Steiermark meldete 13 Sterbefälle mit einem Durchschnittsalter von über 82 Jahren.

Abgesehen von der Frage, ob so alte Menschen wirklich an oder doch eher mit Corona sterben: Pflegebedürftige Greise sind die einzige Personengruppe, die sich beim besten Willen nicht selbst schützen kann. Sie wären auf sinnvolle Maßnahmen der Politik angewiesen. Trotz großer Ankündigungen gelang das nun schon zum zweiten Mal nicht ausreichend.

Anders als im Frühling gibt es in den Heimen mittlerweile zwar ausreichend Schutzkleidung und Masken. Aber PCR-Tests dauern auch in diesem sensiblen Umfeld oft mehrere Tage. Und die seit mindestens zwei Monaten marktfähigen Antigen-Schnelltests, die innerhalb weniger Minuten ein Ergebnis liefern, wurden von den politisch Verantwortlichen im Bund und in einigen Ländern offenbar zu spät bestellt. Erst seit etwas mehr als einer Woche ist die Auslieferung im Gang. Während viele Unternehmen ihre Mitarbeiter und Kunden schon im großen Stil durchtesteten, waren manche Heimbetreiber zum Warten verdammt.

Robert Kaufmann ist Leiter des Sozialzentrums "sZenzi" in Zirl und Obmann der ARGE Tiroler Alten- und Pflegeheime. Schon Anfang November hatte er Alarm geschlagen: "Die Schnelltests hätten wir schon vor einem oder zwei Monaten gebraucht", erklärte er. Im Gespräch mit profil bleibt er bei diesem Befund: "Man kann eine Gefahr nur eingrenzen, wenn man sie sieht. Mit Tests lässt sich das Risiko relativ schnell feststellen."In Tirol wird das Pflegepersonal seit Kurzem zweimal pro Woche gecheckt. Das geht über die Verordnung des Gesundheitsministeriums hinaus, in der nur von einem Test pro Woche die Rede ist. Er wolle niemandem persönlich eine Schuld aufladen, meint Kaufmann. "Aber ganz ehrlich, die zweite Welle haben wir vergeigt."

Es ist nicht bloß die hohe Zahl an Toten, die einen anderen Umgang mit älteren Menschen nahelegt. Es geht auch um die Situation in den Spitälern. Günter Weiss, Direktor des Departments Innere Medizin an der Med-Uni in Innsbruck, wandte sich jüngst mit einer sehr klaren Warnung an die Öffentlichkeit: "Es ist fünf vor zwölf", erklärte er in Bezug auf die Spitalskapazitäten. Weiss befürwortet keinen Total-Lockdown, sondern plädiert für einen größtmöglichen Schutz vulnerabler Gruppen. "Da geht es nicht nur um die Altersheime, sondern auch um die mobile Pflege, wo ein Mitarbeiter pro Tag zehn bis 15 Patienten besucht. Wir brauchen in diesem Umfeld funktionierende Hygienekonzepte und regelmäßige Screenings." Man beobachte derzeit vermehrt Clusterbildungen in Heimen und als Folge davon auch mehr solche Patienten im Spital - wo bei über 80-Jährigen die therapeutischen Möglichkeiten oft limitiert seien, sagt Weiss. Er verweist auf eine Studie aus Deutschland (Lancet Respir Med 2020,8,853-862),die wohl auch in Österreich Gültigkeit hat: Unter 60-Jährige, die wegen Covid ins Krankenhaus kamen, hatten auf der Normalstation ein Sterberisiko von lediglich 0,7 Prozent. Mussten sie invasiv beatmet werden, stieg es auf 28 Prozent. In der Generation 80plus lag das Risiko, auf der Normalstation zu sterben, bei 33 Prozent. Maschinelle invasive Beatmung auf der Intensivstation endete für 72 Prozent tödlich. "Da muss ich mir als Arzt in jedem Fall die Frage stellen, welche Behandlung für einen Patienten die beste und sinnvollste ist",sagt Weiss.

Dass einige Heime - etwa in Oberösterreich - jetzt wieder beginnen, Besucher auszusperren, ist ein Zeichen der Verzweiflung. Meistens gingen die Infektionen nämlich nicht von den Besuchern aus, sondern vom Personal, heißt es unter der Hand. Den Mitarbeitern dürfe man aber keinen Vorwurf machen: "Niemand will das, keiner ist leichtsinnig. Aber es kann eben passieren, dass man sich ansteckt", sagt eine Heimleiterin. "Können Sie sich vorstellen, wie man sich fühlt, wenn man für mehrere Todesfälle verantwortlich ist?" Viele Versäumnisse im Pflegebereich würden sich jetzt rächen, etwa die seit Jahren äußerst angespannte Personalsituation. Dass derzeit auch noch zahlreiche Kollegen in Quarantäne sitzen, mache es für die verbliebenen Mitarbeiter umso schwerer. "Da kann es schon vorkommen, dass jemand zur Arbeit geht, obwohl er sich eigentlich krank fühlt."

Petra Prattes ist Bereichsleiterin für Betreuung und Pflege der Caritas in der Steiermark. Im Moment sei die Situation halbwegs ruhig, sagt sie. "Wir haben immer wieder ein paar Fälle, aber zum Glück derzeit keine großen Cluster. Die Mitarbeiter wären natürlich bereit, sich häufiger testen zu lassen. Allein die Rahmenbedingungen machten das kompliziert: "Mit den behördlich organisierten Tests dauerte es mehrere Tage bis zu einem Ergebnis, das war schwierig", sagt Prattes. "Deshalb haben wir uns ein privates Labor gesucht, da ging es wesentlich schneller." Jetzt würde man gerne mehr Schnelltests verwenden, aber das scheitere noch immer an den verfügbaren Mengen. Besucher will die Caritas so lange wie möglich ins Haus lassen-obwohl die Bedingungen immer schwieriger würden. "Es ist schlimm für die Bewohner, wenn sie ihre Angehörigen nicht sehen. Vor allem dementen Menschen kann man nicht erklären, warum plötzlich keiner mehr kommt", meint Prattes.

Ärzte und Pfleger erzählen, dass unter den besonderen Bedingungen der Pandemie manchmal des Guten zu viel getan werde. Die Spitäler seien auch deshalb voll, weil sehr alte, multimorbide Menschen noch schnell vom Heim ins Krankenhaus gebracht würden. Vor Corona habe man öfter versucht, den Patienten in der gewohnten Umgebung einen friedlichen Tod zu ermöglichen. Robert Kaufmann bestätigt das zum Teil: "Wir schicken nicht jeden ins Spital", sagt er. "Aber es kommt vor, dass die Ressourcen in einem Heim erschöpft sind. Wenn mehrere Bewohner erkrankt sind, müssen schon aus Kapazitätsgründen einige ins Krankenhaus." Petra Prattes erzählt, dass Corona den normalen Umgang mit dem Thema Tod erschwert habe. "Teilweise befinden sich die Bewohner in einem finalen Stadion ihres Lebens. Das Virus beschleunigt diese Phase. Aufgrund von Corona werden aber mehr Bewohner ins Krankenhaus transferiert."

Wo Menschen so nah zusammenkommen wie in der Pflege, werden sich Ansteckungen nicht zu 100 Prozent vermeiden lassen. Deshalb können Schuldzuweisungen ungerecht sein. Auffällig ist aber doch, wie unglaublich detailverliebt die Politik in den ganz normalen Alltag der Bürger eingreift-und wie schlampig die Regelungen in der Pflege sind. Der Föderalismus mag eine Erklärung dafür sein. Zuständig für diesen Bereich sind die Länder, weshalb die Regelungen überall ein wenig anders ausfallen. Dennoch ist nicht einzusehen, warum eigentlich simple Maßnahmen seit Monaten nicht umgesetzt werden. "Es wurde mehrfach angekündigt, dass es ein Screening-Programm für die 24-Stunden-Pflege geben soll. Darauf warten wir immer noch",sagt ein Mitarbeiter des Hilfswerks. Schon lange eingefordert werden von den Anbietern auch Quartiere für Betreuerinnen, die wegen eines positiven Corona-Tests in Quarantäne müssen. "In Wien gibt es eine solche Unterkunft. Überall sonst muss die Unterbringung privat organisiert werden."

Boris Palmer, grüner Bürgermeister der deutschen Stadt Tübingen, gehört zu jenen Politikern, die seit Frühling einen stärkeren Schutz der Risikogruppen fordern. Weil die Bundespolitik wie in Österreich nicht mitzieht, nahm Palmer die Dinge selbst in die Hand. Schon im April sei damit begonnen worden, das Personal in den Tübinger Pflegeheimen systematisch zu testen, erklärte er jüngst im ZDF. Seit Anfang September gebe es auch für die mobilen Dienste alle 14 Tage einen Testtermin. Nach Angaben des Bürgermeisters hat das gewirkt: "Wir hatten bisher in Tübingen keine Corona-Ausbrüche in Pflegeheimen." Außerdem bekommen Menschen über 65 gratis FFP2-Masken (die auch den Träger schützen) und Gutscheine für Taxis zum Preis einer Busfahrt. Er halte sich schlicht an die Zahlen, sagt der studierte Mathematiker Palmer: "Von einer Million Menschen unter 40 Jahren sterben zwei an Covid, von einer Million über 80 sterben 1000."

Corona sei für die Älteren also 500 Mal gefährlicher, weshalb man die Älteren auch mehr schützen müsse. Klingt logisch und wäre ohne Diskriminierung der Senioren machbar. Aber die einzige Strategie der meisten Regierungen lautet nach wie vor: Lockdown für alle. Sehr wahrscheinlich nicht zum letzten Mal in diesem Winter.

Rosemarie Schwaiger