Eine Frau, die schützend eine Hand vorhält
Gewalt

Die Polizei-Software, die Frauen vor Übergriffen schützen soll

Monatlich verhängt die Wiener Polizei bis zu 360 Betretungs- und Annäherungsverbote – mithilfe einer Software, die vor gefährlichen Tätern warnt.

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Es kracht am Wiener Minoritenplatz. Schreie, Trillerpfeifen, knallende Töpfe, selbst mit Kochlöffeln wird Lärm gemacht. Rund 200 Frauen sind hier an einem Freitag Anfang März anwesend, vereinzelt auch Männer. Geschrien wurde für die sieben heuer getöteten Frauen, die keine Stimme mehr haben. 

Dieser Schreiprotest des Österreichischen Frauenrings ist jetzt zwei Wochen her. Doch die Rufe, den Hass auf Frauen zu bekämpfen, klingen nach. Dieser Hass, so die Protestierenden, führe systematisch zum Tod von Frauen – in Beziehungen, durch Ex-Freunde, Ex-Männer, Stalker, eifersüchtige Partner.

profil hat Nina Lepuschitz getroffen, die Leiterin der Opferschutzzentrums der Landespolizeidirektion (LPD) Wien, welches vergangenen Oktober ins Leben gerufen wurde. Ihr Team schreitet in höchstgefährlichen Situationen ein. „Wir wollen jegliche Gewalt an Frauen und Männern verhindern“, sagt Lepuschitz. Auch Frauen können zu Täterinnen werden, doch in 88 Prozent der Gewaltfälle sind es Männer.

Bis zu 360 Betretungs- und Annäherungsverbote werden in der Bundeshauptstadt jeden Monat von der Polizei ausgesprochen, jedes einzelne mithilfe einer Risikoeinschätzung durch eine Software namens PROTEEKT.

Aber wie erkennt die Wiener Polizei, wer gefährlich werden könnte? Wie erkennt sie, wann Maßnahmen zur Gewaltprävention notwendig sind? Und wie greift sie in Gewaltspiralen ein?  

Es erfordert viel Menschenkenntnis, eine sensibilisierende Ausbildung – und Mathematik.

Betretungsverbote – Ergebnis einer Rechnung?

Die Polizist:innen, die in Fällen häuslicher Gewalt einschreiten, sind zwar auf Extremsituationen geschult, wie auch Lepuschitz betont – aber auch sie können manchmal überfordert sein. Eine strukturierte Unterstützung durch den sogenannten GiP-Support kann dabei wesentlich zur Handlungssicherheit beitragen.

Stellen die Polizeibeamten fest, dass es sich um Gewalt in der Privatsphäre handelt, sind sie dazu verpflichtet, den GiP-Support (GiP steht für Gewalt in der Privatsphäre) zu kontaktieren und bekommen dann Unterstützung aus der Zentrale. Der Journaldienst dort ist rund um die Uhr besetzt und geht dann gemeinsam mit den Kolleg:innen vor Ort einen Fragenkatalog durch. Dazu zählen Fragen wie: Spielt Alkoholsucht eine Rolle? Kam es schon einmal zu Körperverletzung? Hat der Gefährder schon einmal behördliche Auflagen missachtet? Auch ob ein Waffenverbot ausgesprochen wurde, kann der Journaldienst in Akten herausfinden.

Nina Lepuschitz

„Wir wollen jegliche Gewalt an Frauen und Männern verhindern.“

Nina Lepuschitz (Opferschutzzentrum der LPD Wien)

Auf Basis von 13 Fragen wird dann mittels Wahrscheinlichkeitsberechnung ein Risikoprofil zum Gefährder erstellt – das dauert höchstens eine Stunde. Dabei gilt es herauszufinden, inwiefern es sich um einen einmaligen Vorfall handelt oder einen ernstzunehmenden Gefährder. Das Ergebnis: Eine Gefahreneinstufung, die in einem Hochrisikofall zu einer Betrauung des Opferschutzzentrums führen kann. Es gibt drei Risikostufen, die einem Ampelssystem folgen: Niedriges Risiko (grün), erhöhtes Risiko (gelb), Hochrisiko (rot). Das Ergebnis scheint in der entsprechenden Farbe auf.

Wie eine Software vor Gefahr schützt

Das Tool PROTEEKT wurde von der LPD Wien in wissenschaftlicher Begleitung durch die Sicherheitsakademie des Innenministeriums programmiert – aus eigenen Personal- und Geldressourcen. Die Risikoeinschätzung orientiert sich an einem kanadischen Tool („ODARA“), das weiterentwickelt wurde, um österreichischen Verhältnissen zu entsprechen.

Das jetzige Programm berücksichtigt nun die österreichische Gesetzeslage – was etwa den Waffenbesitz angeht –, funktioniert auf Deutsch, und kann auch für eine breitere Bandbreite von Vorfällen verwendet werden. Es reicht im Vergleich zum kanadischen Tool etwa, wenn der Gefährder eine Drohung ausspricht, und er muss auch nicht ausschließlich in einer romantischen Beziehung mit dem Opfer sein.

Dieses Tool ist für die LPD Wien nicht mehr wegzudenken und kommt immer bei Gewalt in den eigenen vier Wänden zum Einsatz.

„Jeder Einsatz ist anders“, sagt Lepuschitz, deshalb brauche es ein „objektives Tool, bei dem weder die subjektive Selbsteinschätzung des Gefährders noch die alleinige Beurteilung der einschreitenden Polizisten einfließen.“

Doch können mathematische Formeln das Bauchgefühl langjähriger Beamt:innen ersetzen? „Die Kombination zwischen der Einschätzung durch den besonders geschulten Beamten und dem PROTEEKT ergeben eine professionelle Gefahreneinschätzung“, sagt Lepuschitz. 

Leuchtet die Gefahrenanalyse grün, aber die einschreitenden Polizeibeamten hegen Verdacht, dass der Täter weiterhin gefährlich sein könnte, ergreifen sie trotzdem Sicherheitsmaßnahmen.

Das Opferschutzzentrum unter der Leitung von Lepuschitz wird in Hochrisikofällen verständigt – in diese Kategorie fallen laut Lepuschitz zwölf Prozent aller Täter, die eine eine hohe Gefahr für das soziale nahe Umfeld bedeuten.

Ein Betretungs- und Annäherungsverbot gilt zwei Wochen, und „diese sollen sowohl vom Gefährder als auch vom Opfer sinnvoll genutzt werden“, sagt Nina Lepuschitz: Gefährder gehen in sechs Beratungsstunden. Dort wird etwa das Motiv hinter dem Vorfall geklärt und anderwärtige Verhaltensmöglichkeiten besprochen.

Während dieser zwei Wochen sind auch die Gewaltbetroffenen gesetzlich dazu verpflichtet, den Täter nicht in die Wohnung hineinzulassen.

Unentdeckte Hilfeschreie

Ein Kritikpunkt am GiP-Support: Er kommt logischerweise nur dann zum Einsatz, wenn die Polizei gerufen wurde. Gegen unentdeckte Gewalt in der Familie müsse mehr Forschung betrieben werden, wie der Rechnungshof im Vorjahr in einem Bericht festgehalten hat. Es ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Oft drohen Täter Frauen in just dem Momenten, in denen sie die Polizei rufen wollen, mit Gewalt. Dennoch: Der Griff zum Handy bedeutet für Betroffene die Möglichkeit auf einen Ausweg aus der Gewalt. Bei den meisten Frauenmorden war die Polizei zuvor nicht involviert.

Die Anzahl der Betretungsverbote ist jedoch in den letzten Jahren angestiegen. Für Julia Brož von den Frauenhäusern Wien heißt das nicht unbedingt, dass Gewalt zugenommen habe – sondern eher, dass sie besser entdeckt werde. Brož zeigt sich erfreut über die Zusammenarbeit zwischen Frauenhäusern und der Polizei. Frauenhäuser sind ständig mit Hochrisikofällen konfrontiert. Deshalb veranstaltet die Wiener Schutzorganisation gemeinsam mit dem Gewaltschutzzentrum regelmäßig Schulungen für die Polizei.

Im Gespräch mit profil erzählt sie: „Die Sensibilität in der Polizei ist gestiegen, das Dunkelfeld ist kleiner geworden.“ Wichtig sei, weiterhin in Prävention zu investieren – sechs Beratungsstunden nach einem Betretungsverbot würden nicht ausreichen, um nachhaltige Veränderungen zu erwirken. Bereits in der Schule müsse man Kinder und Jugendliche über Gewalt in Beziehungen aufklären.

Derzeit nur in Wien

Die Supportstruktur der LPD Wien wurde vergangenen Sommer vom Rechnungshof gelobt, er empfahl dem Innenministerium, „bundesweit unter Beachtung von Kosten–Nutzen–Aspekten sicherzustellen, dass ersteinschreitenden Exekutvbediensteten bei Fällen von Gewalt in der Privatsphäre gegebenenfalls qualifizierte und strukturierte Unterstützung – ähnlich der Struktur in der Landespolizeidirekton Wien – zur Verfügung steht.“

Die LPD Wien hat also ein Instrument, welches das Gefahrenpotenzial von Tätern einschätzt, rassistische oder sexistische Vorurteile ausschließen und damit zur optimalen Gewaltprävention dienen soll. Ein Pauschalverdacht – etwa bei einem Migrationshintergrund – ist also ausgeschlossen. Warum wird das Computerprogramm nicht an jeder Polizeidienststelle von Eisenstadt bis Bregenz installiert?

Politisch sind derartige Softwares schon länger Thema. Österreich hat 2011 die Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen unterschrieben. Das Übereinkommen des Europarats empfiehlt den Vertragsparteien:

„Die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen [zu ergreifen], um sicherzustellen, dass eine Analyse der Gefahr für Leib und Leben und der Schwere der Situation sowie der Gefahr von wiederholter Gewalt von allen einschlägigen Behörden vorgenommen wird, um die Gefahr unter Kontrolle zu bringen und erforderlichenfalls für koordinierte Sicherheit und Unterstützung zu sorgen.“

Die Konvention schreibt also vor, dass die dafür zuständigen Stellen, in Österreich das Innenministerium (BMI), eine Art objektive Gefährdungsanalyse österreichweit einführen sollen.

Das BMI prüft derzeit noch, „ob eine bundesweite Ausrollung [von PROTEEKT und dem GiP-Support] möglich und praktikabel ist“, heißt es auf Anfrage. Die grundlegenden Formeln hinter PROTEEKT sind nämlich auf die Wiener Bevölkerung zugeschnitten. Somit würden sie „nicht ohne Weiteres eins zu eins auf andere Bundesländer umgelegt werden können“. Laut profil-Informationen könnte im Sommer eine Entscheidung zur landesweiten Umsetzung fallen.

Elena Crisan

Elena Crisan

Wenn sie nicht gerade für den Newsletter "Ballhausplatz" mit Politiker:innen chattet, schreibt sie im Online-Ressort über Wirtschaft und Politik.