profil-Morgenpost

Die Welt als Gastgarten

Schritt für Schritt ins öffentliche Leben – weil’s einfach nachhaltiger ist.

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Guten Morgen!

Vokabeln der Krise, letzter Teil (vielleicht): Öffnungsschritte. Ein Substantiv ohne Sinn und Ziel, aber doch mit einer gewissen Verheißung. Und man ist ja auch semantisch milder geworden in den vergangenen Monaten. Öffnungsschritte also. Wohin führen sie uns? Reichen 10.000 pro Tag für einen ausgewogenen Stoffwechsel? Und was ist, wenn man an Long Pandemic leidet und gar nicht besonders heiß ist auf Gastgärten, Opern oder Menschenmengen? Was, wenn man geschlossene Gesellschaften bevorzugt?

Spritzwein oder Erdäpfelsalat

Der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper beschrieb in seiner berühmten Studie über die offene Gesellschaft vor 75 Jahren eine Einrichtung, in der keine ideologischen oder historischen Zwänge herrschen, sondern wo freie Meinungen und liberale Institutionen eine offene Zukunft gestalten, mit anderen Worten: eine Welt als Gastgarten. Da trifft man sich ganz ungezwungen und je nach persönlicher Neigung bei Spritzwein oder Erdäpfelsalat, unterhält sich oder schweigt sich an, erzählt einander vom Impftermin oder vom Warten auf ebenjenen, macht Urlaubs- oder Arbeitspläne, ärgert sich über die Chuzpe mancher Regierenden, oder nicht – und streitet endlich wieder von Angesicht zu Angesicht, was ja der Sinn einer jeden Gesellschaft ist, die sich nicht von Social Media ins Bockshorn jagen lassen will. Diese Morgenpost sei als klares Ja zum Gastgarten verstanden.

Die nachhaltige Gesellschaft und ihre Rohstoffe

Dass wir hier ständig von Öffnungsschritten faseln und nicht etwas von Öffnungsfahrten oder Öffnungsflügen, hat natürlich auch einen Grund, er heißt: Klimaschutz. Es gibt einfach keine nachhaltigere Fortbewegungsmethode, auch wenn der typische Mensch beim Spazierengehen immer noch jede Menge CO2 ausstößt, aber das sind Kinkerlitzchen im Vergleich zu den Problemen, vor denen wir alle noch stehen werden. Im profil stellte der Rohstoffexperte Lukas Höber jüngst eine leider erschreckend einfache Rechnung an: Wir werden es wohl auch beim besten Willen nicht schaffen, den weltweiten Energiebedarf aus erneuerbaren Quellen zu bedienen, weil es auf dieser Welt schlicht nicht genug Beton, Stahl, Aluminium oder Kupfer gibt, um die nötigen Windkraft- und Solar-Anlagen zu bauen, und die Herstellung von Beton, Stahl, Aluminium oder Kupfer leider so ziemlich das Gegenteil von nachhaltig ist. Also: Gehen Sie, bitte. Oder bleiben Sie daheim. Aber bleiben sie uns gewogen, denn das nächste profil kommt bestimmt. Und zwar – ausnahmsweise, weil feiertagsbedingt – schon am Freitag.

Wir wünschen Ihnen einen fortschrittlichen Donnerstag!

Ihr Sebastian Hofer

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Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.