Österreich

Protokolle der Verstörung: Die Volkspartei auf der Suche nach Orientierung

Die Aussagen von Thomas Schmid sorgen in der ÖVP für Verunsicherung, Zorn und Selbstkritik. profil zeichnet ein Stimmungsbild einer Partei, die nach Orientierung und Kurs sucht

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profil befragte elf Menschen quer durch Österreich, die ÖVP-Bünde und ÖVP-Flügel, die in oder für die ÖVP arbeiten oder sich christlichsozialen Werten verbunden fühlen. Sie rechnen mit Heilsbringern ab, fordern parteiinterne Aufarbeitung-oder auch mehr Dankbarkeit für Sebastian Kurz. Sie machen Vorschläge, wie die ÖVP aus dem Tief kommen kann-oder setzen darauf, die Justiz arbeiten zu lassen. Elf Wortprotokolle aus der gebeutelten Volkspartei.

Schmuckenschlager: "Compliance-Schulungen für die Politik"

Johannes Schmuckenschlager

führt den Familienbetrieb Weinbau und Heurigen in Klosterneuburg. 2008 zog er als jüngster Abgeordneter Niederösterreichs ins Parlament ein, seit 2018 ist er Präsident der Landwirtschaftskammer Niederösterreich.

"Natürlich ist es ein Riesenaufreger, wenn Thomas Schmid auspackt, das merke ich bei vielen Gesprächen. Als Weinbauer und mit engem Kontakt zur Kommunalpolitik komme ich viel unter die Leute.
Ich habe Thomas Schmid als Referent im ÖVP-Parlamentsklub erlebt: Er war Karrierist und nach oben orientiert, egal, wer oben war. Seine Ambitionen galten den Mächtigen und Reichen, wir Abgeordneten waren ihm zu minder. Schon aus diesem Grund stehe ich eher auf der Seite von Sebastian Kurz.
Die Chats haben viele unserer Wähler verstört, weniger die konkreten Anschuldigungen als der Ton und die Kultur. Daher kann es für die ÖVP kein Ausweg sein zu sagen, wir haben Wichtigeres zu tun, wir kümmern uns nicht darum. Natürlich gibt es Krisen und wichtige Themen, aber wir müssen dennoch aufarbeiten, was schiefgelaufen ist. In öffentlicher Stellung hat man eine andere Verantwortung, aber Politiker dürfen nicht zum Freiwild werden: Wenn die Lebensgefährtin von Sebastian Kurz auch angegriffen wird, dann ist das nur mehr ungustiös, das will ich ganz deutlich sagen.
Wir müssen jetzt viel kommunizieren, um wieder Vertrauen herzustellen. Eine Möglichkeit wäre: Aufsichtsräte haben verpflichtende Compliance-Schulungen, in der Bankenwelt gibt es 'fit und proper'-Richtlinien, derartige Schulungen könnten Institutionen wie, Transparency International' auch für Politiker anbieten. Das wäre eine Richtschnur, an der wir uns orientieren können. Denn natürlich bekomme ich als Nationalrat ständig Interventionen von Bürgern, bis hin zum scheppernden Kanaldeckel. Diese Funktion der Politik als Brücke zwischen Politik und Verwaltung ist wichtig. Die meisten Abgeordneten wissen auch, was falsch und richtig ist. Eine Richtschnur könnte dennoch hilfreich sein."
 

Beate Palfrader: "Erschreckend, dass man Heilsbringern auf den Leim geht"

Beate Palfrader (64)

war ab 2008 als Landesrätin in drei Tiroler Regierungen unter Günther Platter für Bildung, Kunst, Kultur, Wohnen und Arbeit zuständig. Im Juni gab sie ihren Rückzug aus der Politik bekannt.
 

"Als die Ära Kurz begann, hatte ich den Eindruck, dass das Parteiprogramm über allem steht. Meinen Eid aber legte ich auf die Verfassung ab. Deshalb weigerte ich mich 2017-als Einzige im Landesparteivorstand-,das Bundesparteiprogramm zu unterschreiben. Ab dem Zeitpunkt ging es mir intern nicht mehr gut, was ich im Landesparteivorstand auch angesprochen habe. Doch Sebastian Kurz gewann Wahlen, kritische Töne fanden kein Gehör mehr.

Mit ihm kam die vermeintliche Schließung der Balkan-Route, der unsägliche Umgang mit Flüchtlingen im griechischen Lager Moria, die Zusammenlegung der Sozialversicherung, die unter dem Strich mehr gekostet als gebracht hat. Viele haben sich hinter vorgehaltener Hand distanziert-und öffentlich geschwiegen. Was von der Bundespartei aus Wien gekommen ist, wurde kritiklos übernommen.

Es erschreckt mich, dass man immer irgendwelchen Heilsbringern auf den Leim geht. Ich habe, als die Vorwürfe gegen Sebastian Kurz öffentlich wurden, gesagt, ich an seiner Stelle würde mich so lange zurückziehen, bis alles geklärt ist. Dann gab es Anrufe aus Wien. Aber ich habe auch Stapel von Mails bekommen. Es waren wirklich viele, die geschrieben haben: 'Was ist mit unserer ÖVP los? Danke, dass du dich gemeldet hast!'

Das moralische Bild, das unsere Partei derzeit abgibt, kann nur dazu führen, dass uns die Leute scharenweise davonlaufen, und-schlimmer noch-den Rechten zulaufen. Man kann nicht ausschließen, dass es in anderen Parteien ähnliche Vorkommnisse gibt. Aber nun trifft es eben die ÖVP. Was immer an den Aussagen von Thomas Schmid dran ist, es rundet sich ein Bild ab.

Wir haben auch im Bund anständige Politiker und Politikerinnen, die jedoch alles mitgetragen haben. Es passt nicht zusammen, dass die Meinungsfreiheit eines der höchsten, verfassungsrechtlich geschützten Güter ist, jemand innerhalb der Partei aber Probleme kriegt, wenn er seine Meinung sagt. Vielleicht gibt es ein Mut-Seminar. Kurz signalisierte Veränderung. Das war es, was die Menschen wollten. Aber der Hype um seine Person, auch bei uns in der Landespartei, der Kniefall vor Kurz, machte mich persönlich ganz unruhig.

Derzeit werden Regierungen in ganz Europa abgewählt, ob schwarz oder rot. In Tirol haben wir bei den unter 30-Jährigen nur mehr 17 Prozent. Damit müssten wir uns beschäftigen. Stattdessen bejubeln wir, dass wir bei der Landtagswahl zehn Prozentpunkte verloren haben, unter den Prognosen, die bei minus 15 Prozentpunkten lagen.

Für die ÖVP geht es nicht nur um strafrechtliche Belange, sondern auch um den Umgang mit Macht. Es braucht jetzt die Reset-Taste. Das System der vergangenen zehn Jahre gehört durchleuchtet. Es kamen ja erstaunlich viele junge Menschen in Posten, und man weiß nicht, wie das abgelaufen ist."

Robert Hammer: "In der Gemeindestube könnte man sich solche Dinge nicht leisten"

Robert Hammer (68)

ist seit 1985 Bürgermeister von Unterlamm, einer kleinen Gemeinde in der Oststeiermark. Gemeinsam mit Walter Rauch im Vorarlberger Dünserberg ist ÖVP-Politiker Hammer der dienstälteste Ortschef Österreichs.
 

"Als einer der längstdienenden Bürgermeister tut mir die Entwicklung in der Bundes-ÖVP schon ein bisserl im Herzen weh. Wir leiden alle in irgendeiner Form darunter. Es zieht das Ansehen der gesamten Politik in den Keller. Gleichzeitig stellt die Volkspartei rund 75 Prozent aller Bürgermeister. Wir leisten ausgezeichnete Arbeit vor Ort und tragen viel Verantwortung. Nur wird es uns gerade von oben nicht leicht gemacht.

Man muss aber auch die Kirche im Dorf lassen. Denn ohne es schönreden zu wollen-gewisse Dinge sind sicher in jeder Partei schon vorgekommen, sie sind nur nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Es sind jetzt auch nur einigewenigeinderPolitik, diesieinMisskreditbringen. Und teilweise hat man auch das Gefühl, da steckt ein System dahinter: Alle gegen die ÖVP. Ich befürchte, dass das der FPÖ in die Hände spielt.

Die Anschuldigungen gegen Sebastian Kurz möchte ich im Detail nicht kommentieren. Ich warte ab, was am Ende des Verfahrens herauskommt. Bestimmte Chats waren unmöglich, in der Gemeindestube könnte man sich solche Dinge nicht leisten. Ich glaube, es hat wohl keinen anderen Weg gegeben, als dass Kurz zurücktritt. In Zeiten wie diesen macht es Bundeskanzler Karl Nehammer recht gut. Man kann nur beharrlich versuchen, Dinge umzusetzen, die auch bei den Menschen ankommen. Und was die unzähligen U-Ausschüsse betrifft: Die Abgeordneten sollten sich gerade in Zeiten wie diesen mit den brennendsten Fragen der Gegenwart beschäftigen."

Hannes Rauch: "ÖVP sollte mehr Dankbarkeit gegenüber Kurz zeigen"

Hannes Rauch (51)

stieg in der Tiroler ÖVP in die Politik ein, war Pressesprecher im Innenministerium, von 2011 bis 2013 ÖVP-Generalsekretär, saß für die ÖVP im Nationalrat und im Tiroler Landtag. Heute ist er Präsident des FC Wacker Innsbruck.
 

"Es gibt keine Politikverdrossenheit, das zeigt die Beteiligung bei der Tirol-Wahl und bei der Bundespräsidentenwahl, das zeigen die vielen Diskussionen über Politik. Aber es gibt Unzufriedenheit. Dafür ist, neben Krisen wie Teuerung, das Korruptionsthema natürlich mitverantwortlich. Die ÖVP hat derzeit eine schwierige Themenlage, weil etwa bei der Teuerung die Kompetenz eher Parteien links der Mitte zugeschrieben wird. Dennoch hat die ÖVP die Chance, erfolgreich zu sein, wenn sie in Wirtschafts-und Steuerfragen konservativ ist, durchaus auch wagt, Themen wie Familiensplitting aufs Tapet zu bringen. Oder fragt, welche Bildungsreformen es für den Arbeitsmarkt braucht. In gesellschaftspolitischen Fragen kann man etwas liberaler sein, im Migrationsbereich restriktiv. So zeigt man klare Kante. Das ist notwendig, denn der Erfolg von Sebastian Kurz beruhte nicht auf Marketing, das verwendet ohnehin jede Partei. Die ÖVP muss sich eingestehen, dass Kurz sehr wohl inhaltliche Pflöcke einschlug. Die brauchen wir auch jetzt. Kurz war einer der besten Politiker, die die ÖVP seit 30 Jahren hervorgebracht hat. Mir ist es zu billig, jetzt alle seine Erfolge beiseitezuschieben. Die ÖVP sollte mehr Dankbarkeit gegenüber Kurz zeigen. Wir sind alle mit türkisen Sonnenbrillen, türkisen Schals, türkisen Krawatten durch die Gegend gelaufen und haben uns in seinen Erfolgen gebadet. Kurz hat der ÖVP gezeigt, wie man Wahlen gewinnt und dass die ÖVP durchaus über 30 Prozent kommen kann. Es ärgert mich fast, wenn jetzt manche Kindesweglegung betreiben, wieder schwarz sein wollen und nie bei Türkis dabei gewesen sein wollen.

Es ist evident, dass es Fehlverhalten gab, aber man kann nicht eine ganze Partei in den Korruptionssumpf ziehen. Wahrscheinlich war es ein Fehler, die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen zu einem Minderheitenrecht zu machen. Die Menschen erwarten vom Parlament etwas anderes. Und es muss auch aufhören, dass Akten aus der Justiz in Medien erscheinen. Das funktioniert in Deutschland, das würde auch uns guttun. Ich weiß, dass ich mich mit diesen Meinungen nicht beliebt mache. Aber als Altpolitiker wie ich hält man Unbeliebtsein aus."

Othmar Karas: "Nicht um Aufarbeitung drücken"

Othmar Karas (64)

sitzt seit 1999 im Europäischen Parlament und ist seit 2022 Erster Parlamentsvizepräsident. Wegen seiner proeuropäischen Linie kam es immer wieder zu Konflikten mit der türkisen ÖVP.
 

"Politik ist in den letzten Jahren dazu verkommen, vordergründig nur noch in Schwarz-Weiß, in Schuldzuweisungen und parteitaktischen Spielchen zu denken. Daran habe ich keinerlei Interesse. Mir geht und ging es stets um Inhalte-und daher stehe ich populistischer Politik skeptisch gegenüber, egal von welcher Partei sie kommt. Dieser Prozess, dass Parteien sich zu wenig um Inhalte kümmern, dauert leider schon länger an. Davon profitieren jene Kräfte, die Demokratie und Vertrauen zerstören wollen. Das führt zu einer besorgniserregenden Vertrauenskrise, die zur Demokratiekrise werden kann. Das macht mir Sorgen, und dagegen müssen wir mit drei Punkten ankämpfen: Wir brauchen einen neuen politischen Stil, einen anderen Umgang miteinander, in dem andere Meinungen und Ideologien respektiert werden und der Diskurs gepflegt wird. Wir brauchen eine Offensive für Transparenz und Offenheit, denn Zudecken und Intrigen kann sich die Politik nicht leisten.

Und wir brauchen einen ehrlichen Umgang mit Krisen, wo wir auch bittere Wahrheiten aussprechen. Nur so können wir wieder Vertrauen zurückgewinnen, und das gilt für die gesamte Politik.

ÖVP-intern wäre das Schlimmste, was uns passieren könnte, dass wir uns um die Aufarbeitung drücken und Thomas Schmid als Einzelfall abtun. Die Grenze für Moral in der Politik kann nicht das Strafrecht sein. Wir können nicht Gesetzesbruch als Maßstab für verantwortungsvolles politisches Handeln heranziehen. Das ist mir zu wenig, dieses Verständnis von politischer Verantwortung ist nicht meines. Dafür bin ich nicht in die Politik gegangen."

Carina Reiter: "Auf Werte besinnen"

Carina Reiter (33)

stammt aus dem Salzburger Pongau, arbeitete beim Maschinenring und in der Lagerhaus-Technik, kam über den Bauernbund zur ÖVP. In der 2500-Einwohner-Gemeinde Pfarrwerfen war sie im Gemeinderat, seit 2019 sitzt sie im Nationalrat und ist Jugendsprecherin der ÖVP.
 

"Es ist Sache der Gerichte, die Vorwürfe aufzuklären. Aber natürlich stimmt mich die Angelegenheit um Thomas Schmid und seine Chats nachdenklich. Die ÖVP ist eine große und komplexe Partei, Parteiobmann Karl Nehammer hat gesagt, wir dürfen uns für unsere Partei keine Denkverbote auflegen. Wir müssen jetzt selbstkritisch sein und hinterfragen, was an unseren Strukturen wir ändern können, damit wir nicht in eine Situation kommen, wie wir sie jetzt haben. Unabhängig davon, wie die Justiz urteilt, müssen wir als Partei klären, wie derartige Anschuldigungen und Vorfälle entstehen können, wo da, der Hund begraben liegt',wie wir im Pongau sagen würden.

Thomas Schmid kenne ich persönlich nicht, Sebastian Kurz natürlich schon. Ohne ihn und die Wahlsiege, zu denen er die ÖVP geführt hat, hätte ich mein Mandat nicht. Er und andere sind nicht mehr in der Politik. Mir ist wichtig: Man kann die ÖVP nicht nur auf diese Anschuldigungen reduzieren. Ich bin überzeugt, dass wir gute Politik machen. Die ÖVP besteht aus mehr als Einzelpersonen, wir haben 600.000 Mitglieder, 1500 Bürgermeister, und unsere Partei wird von integren Persönlichkeiten getragen. Ich engagiere mich für die ÖVP, weil ich mich für meine Region und für Werte wie Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Landwirtschaft sowie die Klimakrise einsetzen will. Auf Werte wie diese sollten uns als ÖVP jetzt besinnen. Und auf Bundesebene sollten wir uns immer vor Augen halten, was Konsens bedeutet - und zwar über alle Parteigrenzen hinweg."

Karl Mahrer: "Sonst verspielen wir das Vertrauen"

Karl Mahrer (67)

war Polizeikommandant in Wien. Sebastian Kurz holte ihn 2017 in die Politik und ins Parlament, seit dem Rücktritt von Gernot Blümel im Dezember 2021 ist Mahrer Chef der ÖVP Wien.
 

"Mir geht es trotz der Turbulenzen derzeit aus zwei Gründen gut als ÖVP-Politiker: Erstens war ich jahrzehntelang als Polizist damit konfrontiert, dass Menschen-vor allem Beschuldigte-irgendetwas behaupten. Jetzt muss die Justiz ermitteln und aufklären. Ich habe mir angewöhnt, mir erst ein Urteil zu bilden, wenn es ein Urteil gibt. Das gibt es nicht, daher bin ich im Moment Beobachter-und kann nicht beantworten, ob ich meine Meinung über Sebastian Kurz, der mich in die Politik geholt hat, geändert habe. Ich vertraue auf die Justiz. Danach bilde ich mir ein Urteil.

Bis dorthin mache ich das, was die Menschen von uns erwarten: arbeiten. Das ist der zweite Grund, worum es mir gut geht: Es gibt viele Krisen, Menschen haben Sorgen, wissen zum Beispiel nicht, ob sie die Stromrechnung zahlen können. Da muss die Politik handeln, und das tue ich. Es würde uns allen guttun, uns auf die Arbeit zu konzentrieren-und mit Aussagen vorsichtig zu sein, die unter die Gürtellinie gehen. Sonst verspielen wir das Vertrauen der Bevölkerung. Und das ist das Gefährlichste, was uns passieren kann."

Harald Zierfuß: "Mit Kanzler Nehammer ist es jetzt einfacher"

Harald Zierfuß (22)

ist Gemeinderat und Chef der Jungen ÖVP in Wien. Von 2016 bis 2018 war er Bundesschulsprecher. Zierfuß ist Mitglied der nicht schlagenden katholischen Studentenverbindung Bajuvaria.
 

"Es wäre vermessen, zu sagen, dass alles entspannt ist. Wir sind in einer krisengeplagten Zeit, auch wegen Corona und des Ukraine-Krieges. Thomas Schmid beschuldigt sich selbst und andere-ich bin mir nicht sicher, ob seine Aussagen ernst zu nehmen sind. Das werden die Ermittlungen klären. Als Bundeskanzler Sebastian Kurz 2021 einen Schritt zur Seite gemacht hat, war ich überrascht. Ich fand es auch schade, als er später zurückgetreten ist. Eine prophylaktische Distanzierung von ihm finde ich nicht nötig. Mit einem Kanzler Karl Nehammer, der nicht Beschuldigter ist, ist es jetzt aber einfacher. Wir müssen unsere Erfolge besser verkaufen, da ist es besser, wenn wir ruhig regieren können.

Es gibt viele Leute, die enttäuscht sind über das, was sich zugetragen hat. Die meisten sagen mir aber, dass man sich auf die aktuellen Krisen konzentrieren soll: zum Beispiel die Teuerung. Das finde ich auch.

Wir als ÖVP müssen unseren Beitrag leisten. Gleichzeitig macht man es uns nicht leicht, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Klar kann man stolz darauf sein, ÖVP-Mitglied zu sein. Die ersten gewählten Bundeskanzler haben wir gestellt. Sie haben Österreich in einem massiven Ausmaß geprägt. Ich hoffe, dass wir das auch wieder in den Vordergrund stellen können."

Klaudia Achleitner: "Nicht mit Feindbildern operieren"

Klaudia Achleitner (58)

arbeitet im Seelsorgeamt der Erzdiözese Salzburg und ist Leiterin des Referats für Pfarrgemeinderäte.
 

"Ich bin nicht Parteimitglied und habe mit der ÖVP nichts zu tun. Ich habe nicht den Eindruck, dass Ton und Inhalt der Chats mit der christlichsozialen Wertehaltung der ÖVP viel zu tun haben, daher kommt wohl auch die Enttäuschung vieler Menschen. Wir reden in Pfarren selten über Politik, aber derzeit nehme ich diese Enttäuschung wahr. Das hat auch mit den Angriffen auf die Kirche zu tun, die in den Chats thematisiert werden-wohlgemerkt Angriffen, weil sich Kirchenvertreter im Sinne der Menschlich keit zur Flüchtlings-und Asylpolitik geäußert haben. Wenn ich das lese, frage ich mich, wo Demokratie bleibt. Man kann doch nicht immer mit Feindbildern operieren, das spaltet die Gesellschaft.

Dennoch sehe ich noch nicht, dass die Demokratie gefährdet ist. Ich erlebe in den Pfarren eher viel soziales Engagement. Manche ältere Menschen sind zwar verdrossen über die Politik, aber gerade bei jungen Erwachsenen nehme ich durchaus neue Politisierung wahr, in Richtung Klima und soziales Miteinander. Das sollte eigentlich christlichsozial sein: dass das Gemeinwohl über das persönliche Wohl gestellt wird."

Sabine Hanger: "Funktionären mitgeben, welche Verantwortung sie übernehmen"

Sabine Hanger (27)

ist Generalsekretärin der Jungen ÖVP. Davor war sie kurz Vorsitzende der Österreichischen Hochschülerschaft und Chefin der Aktionsgemeinschaft. Sie ist die Tochter des streitbaren Abgeordneten Andreas Hanger.
 

"Als Junge ÖVP scheuen wir nicht davor zurück, ins Gespräch zu gehen, wenn uns jemand mit der aktuellen Lage konfrontiert. Das Thema ist bei uns aber nicht so intensiv aufgeschlagen, wie man glauben könnte. Zwei Meinungen sind stark vertreten: die einen, die die Chats klar verurteilen, sie aber als nicht als das wichtigste Thema sehen. Und die anderen, die finden, dass eine Vorverurteilung gefährlich ist.

Solange die Vorwürfe nicht final geklärt sind, werden wir uns auch nicht proaktiv von Sebastian Kurz distanzieren. Sonst würden wir ja genau das tun, was viele Funktionärinnen und Funktionäre nicht wollen: vorverurteilen. Ich verstehe aber die persönlichen Gründe, warum Sebastian zurückgetreten ist. Rückblickend war das eine gute Entscheidung. Kanzler Karl Nehammer kann sich jetzt um die wesentlichen Sachen kümmern.

Wenn die ÖVP wüsste, wie sie das Vertrauen schnell zurückgewinnen könnte, hätte sie es schon gemacht. Ein Schritt ist sicher, Sachpolitik vor Emotionen zu stellen. JVP-Chefin Claudia Plakolm macht das als Staatssekretärin. Sich nur mit sich selbst zu beschäftigen, ist nicht der richtige Weg, auch wenn man das Thema behandeln muss. Wir als JVP sprechen unsere Strukturen offen an: Die Ortsgruppen sind zum Beispiel eigenständige Vereine. Es ist ein klassisch föderales System, aber es birgt auch Risiken, wenn einmal Fehler passieren. Darüber muss man diskutieren. Wir versuchen auch unseren Mitgliedern die Angst zu nehmen, eine politische Funktion zu übernehmen. Aber ihnen auch gleichzeitig mitzugeben, welche Verantwortung sie damit übernehmen."

Hannes Zweytick: "Mit dem ÖVP-Mascherl wird man schief angeschaut"

Hannes Zweytick, 61, Winzer, war zehn Jahre lang ÖVP-Nationalratsabgeordneter und noch länger Bürgermeister in der Südsteiermark. Seit August 2022 ist er Bürgermeister von Ehrenhausen an der Weinstraße.

"Ich persönlich werde nicht oft auf ÖVP, Kurz und Korruption angesprochen. Die Menschen plagen andere Sorgen, und ich bin ihr Bürgermeister. Mit dem ÖVP-Mascherl wird man allerdings eher schief angeschaut. Unter ÖVP-Funktionären redet man auch nicht gern darüber. Jeder denkt sich seinen Teil. Seit Ibiza sitzt die Enttäuschung tief. Was mit Strache begonnen und mit Kurz und Schmid geendet hat, schadet der gesamten Politik. Die Bürger denken, Politiker sind abgehoben, haben weder Respekt voreinander noch Anstand, und die Reichen könnten es sich richten. Parteien sind unten durch, haben an Glaubwürdigkeit verloren. Für die Demokratie ist das sehr belastend-man sieht das auch in anderen Ländern.

ÖVP-Bundeskanzler Karl Nehammer bemüht sich, kriegt aber immer wieder Störfeuer, weil immer wieder neue Chats auftauchen. Zu Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka kann ich nur sagen, dass er das zweithöchste Amt in der Republik bekleidet und wohl weiß, was zu tun ist. Sollte es in der ganzen Sache zu Verurteilungen kommen, hoffe ich auf eine Erneuerung von unten. Die ÖVP war immer eine Partei der Bürgermeister. Sie könnten ein Anker sein und die Partei stabilisieren."

 

Anm.: In einer früheren Version des Artikels wurde die Gemeinde Dünserberg in Tirol verortet, richtig ist allerdings Vorarlberg. Der Fehler wurde korrigiert.

Iris Bonavida

Iris Bonavida

ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges

Christa   Zöchling

Christa Zöchling