Save the Date! Mitterlehner, Faymann

Regierung: Wie man eine Koalition an den Rand des Abgrunds lenkt

Regierung: Wie man eine Koalition an den Rand des Abgrunds lenkt

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Ein gemeinsamer Außenfeind – zumal, wenn es sich um den denkbar bösesten handelt – eint die erbittertsten Kontrahenten. Vergangene Woche gaben Werner Faymann und Reinhold Mitterlehner in trauter Einigkeit bekannt, beim Europäischen Gerichtshof eine Klage gegen öffentliche Subventionen für das umstrittene britische Atomkraftwerk Hinkley Point C einzubringen.

Geht es gegen die Atomlobby, sind Kanzler und Vizekanzler einander so nah wie höchstens noch beim Kinder- oder Tierschutz. Ansonsten herrscht allseits Destruktivismus – in Konjunktur-, Asyl- oder Arbeitsmarktfragen. Begleitet werden die inhaltlichen Turbulenzen von zwischenmenschlichen Animositäten an der Grenze zur körperlichen Abneigung. Ein angeschlagener SPÖ-Kanzler, ein ÖVP-Obmann mit Ambitionen, unüberwindbare Differenzen: Vor sieben Jahren führte diese Mischung zu Neuwahlen, nachdem der damalige ÖVP-Obmann Wilhelm Molterer mit den Worten „Es reicht“ die Koalition beendet hatte.

Derzeit hält die in SPÖ und ÖVP vorhandene Restrationalität die Koalition noch zusammen – nicht zuletzt deshalb, weil die FPÖ in allen Umfragen stabil vorn liegt. Doch Politik ist Psychologie und hat damit auch ein irrationales Moment. So muss das Ende einer Bundesregierung nicht zwingend als kalkulierter Ausstieg einer Partei (Exit) kommen, sondern kann auch ungewollt in Form eines Unfalls (Accident) passieren.

Das Scheitern einer Großen Koalition erfolgt in drei Phasen: sachpolitische Differenzen, persönliche Streitereien, Zusammenbruch.

Privat oder Staat

Was man oft übersieht: Im Kern handelt es sich bei SPÖ und ÖVP um inkompatible politische Gruppierungen. Die SPÖ steht links von der SPD, Sigmar Gabriel ist mehr Arbeitgeber-Versteher als Werner Faymann. Die ÖVP ist in CSU-Bayern-Manier eher rechts von der mittigen CDU. Reinhold Mitterlehner strahlt nicht ins Kleine-Leute-Milieu wie Angela Merkel. Kein Wunder, dass die GroKo in Deutschland – wo sie Ausnahme ist, nicht Regel – besser funktioniert als in Österreich. Wie weit SPÖ und ÖVP inhaltlich auseinander liegen, zeigte sich bei der Präsentation des Wirtschaftsberichts 2015 vergangenen Mittwoch in der Akademie der Wissenschaften in Wien. Der Kanzler sprach über vieles (Griechenland, Gesamtschule, Sozialstaat), nur nicht über Wirtschaft. Der Finanzminister sprach über die größte Steuerreform aller Zeiten und die Kleingeister, die deren (und seine) Grandiosität nicht erfassen, sondern über Details wie Registrierkassen und Kürzungen bei der Militärmusik nörgeln. Alois Stöger, SPÖ-Bundesminister für Verkehr, Innovation und Technologie, sprach über den Wirtschaftsstandort Österreich – nicht immer metaphernsicher („Der kurzfristige Rechenstift ist nicht der beste Ratgeber“), aber immerhin mit klarer Botschaft: gegen „Sparneurosen“, für „Unternehmen in staatlicher Hand“. Weil: „Der Staat und die Wirtschaft sind keine konkurrenzierenden Systeme.“ Sich selbst bezeichnete Stöger kraft seines Ressorts als „den Industrieminister“ der Regierung.

Wenn Blicke Koalitionen töten könnten, wäre die Regierung Faymann/Mitterlehner zu diesem Zeitpunkt bereits Geschichte gewesen. „Industrieminister“ kann es nur einen geben, und daher begrüßte Mitterlehner zu Beginn seiner Rede outrierend wie ein Sommerbühnen-Darsteller den „Herrn Verkehrsminister“ – um dann als Wirtschaftsminister seinerseits zu räsonieren: „Wir müssen den Staat auf seine notwendigen Aufgaben zurückführen und auch einen entsprechenden Kulturwandel weg vom Etatismus einleiten.“

Auch im Jahr 2008 stritten SPÖ und ÖVP über „Staat“ versus „privat“: Vizekanzler Wilhelm Molterer hatte nichts gegen eine komplette Privatisierung der AUA einzuwenden, Kanzler Alfred Gusenbauer forderte eine 25-prozentige Sperrminorität für den Staat. Bei den Koalitionsverhandlungen nach den Neuwahlen im Herbst 2008 zankten SPÖ und ÖVP über weitere Privatisierungsschritte bei Post und Telekom Austria – woran sich bis heute nichts geändert hat.

In zentralen Fragen vertreten Rot und Schwarz diametral entgegengesetzte Positionen: Die ÖVP findet das EU/US-Freihandelsabkommen TTIP hui, die SPÖ pfui. Der ÖVP-Wirtschaftsflügel will die Rekordarbeitslosigkeit (Juni 2015: 8,3 Prozent) mit zwangsflexiblen Arbeitszeiten zulasten der Arbeitnehmer bekämpfen, die SPÖ-Gewerkschaften mit Arbeitsplatz-Zwangsgarantien für Ältere zulasten der Arbeitgeber. Werner Faymann will Österreich „aus der Krise heraus investieren“, Reinhold Mitterlehner zuerst das Geld zusammensparen, das seiner Meinung nach dafür notwendig ist.

Man hat es oft gehört und gelesen: Eine Große Koalition benötige zur Existenzberechtigung ein großes Projekt (EU-Beitritt) oder große politische Herausforderungen, die nur die großen Parteien gemeinsam lösen können. Probleme gäbe es genug, bei der Lösungskompetenz hapert es allerdings gewaltig. Vor zwei Wochen scheiterte die Bundesregierung an der Lösung der Asylproblematik, und vorige Woche sprengten ÖVP-Landeshauptmann Erwin Pröll (Niederösterreich) und SPÖ-Landeshauptmann Hans Niessl (Burgenland) mit der Bildungsreformgruppe ein zentrales Projekt der Koalition. Zur Draufgabe wurde Donnerstag bekannt, dass der Arbeitsmarktgipfel auf September verschoben wird.

Wenn sachpolitisch nichts mehr geht, funktionieren immer noch die Schuldzuweisungsmechanismen. Und dann wird es persönlich.

Schubsen und rempeln

Der Vizekanzler hat einen neuen Lieblingsbegriff, der derzeit in keiner seiner Reden fehlen darf: „Nudging“. Wie von einem Wirtschaftsminister nicht anders zu erwarten, stammt der Begriff aus Nationalökonomie und Managementliteratur: „Nudging“ (Schubsen) bedeutet, dass Bürger/Konsumenten nicht durch gesetzlichen Zwang, sondern mit gefinkelten Anreizen zu wünschenswertem Verhalten (gesunde Ernährung, Altersvorsorge, Müllvermeidung, Unternehmensgründungen) motiviert werden. Ein lebensnahes, oft zitiertes Beispiel ist die in einem Urinal applizierte Fliege, die Männer besser zielen lässt.

So einfach funktioniert „Nudging“ innerkoalitionär nicht, auch wenn sich Reinhold Mitterlehner alle Mühe gibt, Werner Faymann in seine Richtung zu schubsen. Aus dem Kanzler wird kein TTIP-Anhänger mehr. Kommt übertriebene Härte dazu, wird aus einem Nudge ein Bodycheck. Solche gab es jüngst in unmittelbarer Abfolge. Nach dem gescheiterten Asylgipfel sprach Mitterlehner seinem Regierungschef im ORF die Kanzlerfähigkeit ab. Und Kanzleramtsminister Josef Ostermayer bezeichnete das Verhalten des Vizekanzlers als „nicht reif“.

Wenn das Ende einer Koalition naht, versuchen beide Parteien, ihre Version der Geschichte zu erzählen. Das schwarze Narrativ: Der SPÖ-Kanzler sei erschöpft, ihm mangle es an Durchsetzungsvermögen, er hänge am Gängelband der Gewerkschaften, weshalb die Regierungsarbeit zum Stillstand komme. „Im Moment hängt uns ein großer Klotz um den Hals und zieht uns mit nach unten“, sagte ÖVP-Wirtschaftsminister Martin Bartenstein im Juni 2008. Nicht anders vernimmt man es aus der ÖVP heute.

Das rote Narrativ: Die ÖVP habe ihre Niederlage bei den Wahlen nie überwunden, gönne dem Kanzler deswegen keinen Erfolg und plane Neuwahlen und danach eine schwarz-blaue Koalition. Der Vizekanzler hänge am Gängelband seiner Landeshauptleute. „Der ÖVP ist es von Anfang an nur darum gegangen, den Fehler von der Wahl 2006 zu korrigieren und die SPÖ als Koalitionspartner auszubremsen“, sagte Verkehrsminister Werner Faymann 2008. Nicht anders vernimmt man es aus der SPÖ heute.

Der Koalitionsknatsch endet in einem Bruch, wenn auch das persönliche Verhältnis von Kanzler und Vizekanzler zerrüttet ist. Solange auf Chefebene Vertrauen besteht, übersteht die Bundesregierung die wildesten Konfrontationen. Skepsis von Anbeginn schützt vor späteren Enttäuschungen: Reinhold Mitterlehner dürfte Werner Faymann nicht so recht trauen. Schließlich verschliss der SPÖ-Vorsitzende zuvor schon drei ÖVP-Parteiobmänner: Wilhelm Molterer, Josef Pröll, Michael Spindelegger.

Im Gegensatz zu seinen Vorgängern, die als Finanzminister ausgelastet waren, verfügt Mitterlehner über genug Zeitreserven für das Koalitionsmanagement. Und so haben beide Parteichefs ausreichend Energie für Schubser und Rempler. Werner Faymann erklärte, dass er dem neuen steirischen ÖVP-Landeshauptmann „nicht einmal einen Gebrauchtwagen abkaufen“ würde. Und Reinhold Mitterlehner fordert vom Kanzler „mehr Geschwindigkeit bei Reformen“.

Wobei die Rollenverteilung sich geändert hat: Vor einem Jahr unter Faymann/Spindelegger stand einem matten ÖVP-Chef ein viriler SPÖ-Vorsitzender gegenüber. Derzeit halten die Österreicher laut profil-Umfrage Mitterlehner für kanzlerfähiger als Faymann. Und die ÖVP liegt in mancher Sonntagsfrage vor der SPÖ. Wenn Politik die Kunst ist, richtige Zeitpunkte zu erfassen und zu nützen – ist dieser aus ÖVP-Sicht nun gekommen?

Seidene Fäden, reißende Stricke

Vorvergangene Woche hing die Koalition am seidenen Faden. Während des Asylgipfels im Kanzleramt erschien die Abendausgabe der „Krone“, in der Werner Faymann bereits vorweg die Einigung pries. An sich hat man sich in der ÖVP daran gewöhnt, dass der Bundeskanzler die „Krone“ als Amtsblatt für besondere Verlautbarungen versteht. So hatte Faymann im März auch die Einigung bei der Steuerreform vorab seinem Hausblatt gesteckt. Doch diesmal löste der Kanzler bei seinem Vize einen wahren Furor aus. Montag vergangener Woche folgte schließlich die Aussprache nach einem Treffen mit Rechnungshofpräsident Josef Moser. Und Mittwoch nützten die beiden ein lang vereinbartes privates Abendessen in einem Wirtshaus am Wiener Schafberg zum rot-schwarzen Team-Rebuilding.

Dass die „Krone“ die Stabilität der Bundesregierung gefährdete, ist eine bizarre Wiederholung der Geschichte. Im Juni 2008 hatten Werner Faymann als designierter SPÖ-Chef und Kanzler Alfred Gusenbauer gemeinsam einen Brief an „Krone“-Chef Hans Dichand verfasst, in dem sie zusicherten, zukünftige Änderungen in EU-Verträgen einer Volksabstimmung zu unterziehen (siehe Seite 28). Wenige Tage später beendete Wilhelm Molterer erbost die Koalition. Am Ende hatten sich beide verkalkuliert. Faymann rechnete nicht mit der unmittelbaren Aufkündigung des Regierungsbündnisses, und Molterer ignorierte den Grundsatz, dass bestraft wird, wer Neuwahlen auslöst.

Bevor alle Stricke einer Koalition reißen, versucht verlässlich der Bundespräsident einzugreifen. Eine Woche vor dem Bruch 2008 forderte Heinz Fischer SPÖ und ÖVP auf, „ihre Arbeit möglichst bis zum Ende der Legislaturperiode fortzusetzen“. Der lakonische Hinweis des Staatsoberhaupts: Man habe doch eben erst die Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre beschlossen.

Nach dem gescheiterten Asylgipfel vor zwei Wochen sah sich Fischer wieder einmal zu einer Ermahnung veranlasst. Die „Divergenzen“ der Koalitionsparteien, so der Bundespräsident in einer Aussendung, seien „besorgniserregend“. Der Bundespräsident kann vorerst beruhigt sein. Niemand bei klarem Verstand will einen Bruch der Koalition. ÖVP-Klub­obmann Reinhold Lopatka: „Neuwahlen sind kein Thema. Was sollte dadurch besser werden?“ So ähnlich sprach man freilich auch 2008. Und tatsächlich wurde nach den Neuwahlen nichts besser. Auf die Große Koalition folgte wieder eine Große Koalition.

Entscheidend werden der 27. September und der 11. Oktober werden. Die Wahlkampfplaner aller Parteien dürften die Termine bereits vorgemerkt haben. Denn nach den Landtagswahlen in Oberösterreich und Wien könnte die Regierung in Neuwahlen schlittern – kalkuliert, wenn die ÖVP die Koalition kündigt, sollte die SPÖ Werner Faymann als Kanzler doch noch ersetzen; chaotisch, wenn beide Koalitionsparteien nach absehbaren Erdrutschniederlagen ins Schlingern geraten. Nach dem Ministerrat Dienstag vergangener Woche gaben sich die Parteichefs versöhnlich und einsichtig. Faymann: „Gegenseitige Schuldzuweisungen bringen keinem etwas.“ Mitterlehner: „Ein Euro scheppert nicht allein.“ Und außerdem sei die Koalition nicht so schlecht wie ihr Ruf (beide). Schließlich habe man gerade beim „Reformdialog Verwaltungsvereinfachung“ Lösungskompetenz und Sach­orientierung bewiesen.

Zum gemeinsamen Außenfeind eignet sich die gesamtösterreichische Bürokratie fast so gut wie die britische Atomindustrie.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.