Um kurz- und mittelfristig zu messen, wie gut die Performance einer konkreten Politik ist, stehen valide Indikatoren zur Verfügung: Arbeitslosenzahlen, Wirtschaftswachstum, Armutsquote, Budgetdefizit, Lebenserwartung, Inflation. Misst man daran die aktuelle Regierung und vor allem ihre Vorgängerin, muss man Politikversagen konstatieren. Ex-Bundeskanzler Karl Nehammer und Ex-Finanzminister Magnus Brunner, beide ÖVP, ließen es zu, dass der Staatshaushalt fast kollabierte.
Man kann die Qualität der Politik aber nicht nur anhand ihrer Ergebnisse, sondern an ihren Strukturen bewerten. Dann sieht es mit der Güte hierzulande besser aus. Das Land läuft nach wie vor. Die Sozialpartnerschaft hat sich als krisenfest erwiesen, Streiks finden nicht statt. Die Justiz arbeitet unabhängig, das Parlament funktioniert, die Regierung ist stabil, der soziale Friede nach wie vor gegeben, die Kriminalität im internationalen Vergleich niedrig.
Neue Zweite Republik
Der sogenannte Demokratie-Index, den sieben renommierte heimische NGOs auf Basis internationaler Vergleichsstudien erstellen, liegt nun bei 57 Prozent, nach 54,5 Prozent im Jahr 2019. Es geht bergauf. Im vergangenen Jahr stellten die Index-Ersteller „gesetzliche Verbesserungen in den Bereichen Parteienstruktur und Informationsfreiheit“ fest. Die verfassungsgesetzliche Amtsverschwiegenheit wird schon bald, am 1. September 2025, aufgehoben und eine allgemeine Informationsfreiheit eingeführt.
Angesichts der anhaltenden Krise wollen Bund, Länder und Gemeinden bis Ende 2026 eine große Verwaltungsreform vorlegen. Im Mittelpunkt stehen Wettbewerbsfähigkeit, Deregulierung und Entbürokratisierung. Doppelgleisigkeiten im Energie-, Gesundheits- und Bildungssystem sollen reduziert werden. Am Ende könnte eine neue Betriebsanleitung für die Republik Österreich stehen. Ziel ist es nicht, eine Dritte Republik (wie es einst die FPÖ wollte) zu schaffen, sondern eine neue Zweite.
Die Güte jeglicher Politik hängt von ihrem Personal ab. In seinem Vortrag „Politik als Beruf“ von 1919 differenziert Max Weber bekanntlich zwischen Dünn- und Dickbrettbohrern. Und er stellt fest, „dass man das Mögliche nicht erreichte, wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre. Aber der, der das tun kann, muss ein Führer und nicht nur das, sondern auch – in einem sehr schlichten Wortsinn – ein Held sein.“ Wer als Politiker Visionen hat, braucht also keinen Arzt, wie der 2021 verstorbene Philosoph Rudolf Burger einst spöttisch anmerkte.
Reformwut?
Für die geplante Bundesstaatsreform werden ein paar Heldentaten im Weber’schen Sinn unabdingbar sein, um den Einfluss der Länder zurückzuschrauben, überflüssige Spitäler zu schließen, den Druck auf Arbeitslose zu verstärken. Die Kunst liegt in der Bereitschaft von ÖVP und SPÖ, ihrer eigenen Klientel schmerzhafte Reformen zuzumuten. Die Neos sind ohnehin von Reformwut getrieben.
Reformen fallen leichter, wenn auch der andere bei den Seinen keine Schonung walten lässt. Das im Mai im Zuge des Doppelbudgets präsentierte Paket, das bis Ende 2026 15 Milliarden Euro Einsparungen bringen soll, folgt diesem Prinzip. Es trifft alle, sogar Geringverdiener, was gerade die SPÖ schmerzen muss.
Die gute Nachricht ist: Große Würfe sind möglich. Im Jahr 1995 führten SPÖ und ÖVP in einer gemeinsamen Kraftanstrengung das Land in die Europäische Union. Ab 2001 wagte der damalige ÖVP-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel eine Pensionsreform, die eine Erhöhung des Frühpensionsalters und insgesamt geringere Pensionen vorsah. Gewerkschaften und SPÖ mobilisierten Hunderttausende für Demonstrationen gegen Schüssels Pläne. Als die Sozialdemokraten selbst wieder den Kanzler stellten, nahmen sie dessen Reformen nicht zurück. Diese wirkten langfristig. Erst im Jahr 2028 wird der knapp 30 Jahre zuvor beschlossene Übergang zum Lebenseinkommen als Basis für die Pensionshöhe abgeschlossen. So etwas nennt man gute, weil langfristig angelegte Politik.
Die jetzige Regierung wagte zumindest eine mittlere Pensionsreform, die dem Staat wieder mehr finanziellen Spielraum verschaffen soll. Es ist auch notwendig: Die Pensionskosten steigen in diesem Jahr auf rund 33 Milliarden Euro, bis 2029 sollen sie bereits 38,3 Milliarden Euro erreichen. Im Juli beschloss der Nationalrat eine neue Teilpension, die es ab nächstem Jahr älteren Beschäftigten ermöglicht, einen Teil der Pension zu beziehen und gleichzeitig reduziert weiterzuarbeiten. Die Altersteilzeit wird eingeschränkt. Den ganz großen Wurf, die Anhebung des Pensionsantrittsalters, wagten ÖVP und SPÖ nicht.
Selbst verschuldete Politikverdrossenheit
Allerdings besteht die Gefahr, dass die Regierung unnötig Monate verstreichen lässt. Die nächsten Wahlen – in Oberösterreich und Tirol – finden erst im Jahr 2027 statt. Gute Politik bedeutet auch, Zeitfenster entschlossen zu nützen.
Die besten und heldenhaftesten Politiker werden freilich zum Scheitern verurteilt sein, wenn die Bevölkerung „denen da oben“ pauschal mit Misstrauen begegnet. Gute Politik setzt Wohlwollen und Gesprächsbereitschaft in der Bevölkerung voraus. Keine Partei wird es wagen, über das Ende der Neutralität und einen Beitritt zur NATO auch nur zu diskutieren. Die Abstrafung durch die Wählerschaft und den Boulevard wäre verheerend. Wolfgang Schüssel verlor das Kanzleramt nicht zuletzt aufgrund der Pensionsreform. Bedeutet: Am Ende hängt gute Politik auch von jenen ab, die der Politik unterworfen sind: uns allen. Die viel zitierte Politikverdrossenheit kann man nicht nur den Politikern, sondern auch den Bürgern anlasten.
In Hölderlins „Patmos“ lautet ein zentraler Satz übrigens: „Denn alles ist gut.“