Denn das, was Svitlana Rhyzova passiert, ist kein Einzelfall, sondern betrifft potenziell all jene, die Pensionen aus der Ukraine beziehen. Wie viele es genau sind, kann niemand so recht sagen, nur so viel ist bekannt: In Österreich leben rund 7000 ukrainische Vertriebene, die älter als 65 Jahre alt sind.
Seniorinnen und Senioren, die seit Kriegsbeginn im Februar 2022 nach Österreich geflüchtet sind, sehen sich mit Kürzungen ihrer österreichischen Leistungen konfrontiert. Das jedoch sind, wie bei Svitlana Rhyzova, keine hohen Einkünfte, sondern „klassische Micky-Maus-Beträge“, wie Achrainer kürzlich im Ö1-„Morgenjournal“ sagte, mal 50, mal 100 Euro, kaum je mehr als 150 Euro. Die Kürzungen um diese Summen stürzen die betagten ukrainischen Geflüchteten in große Nöte.
Wer sich unter Ukrainerinnen und Ukrainern oder in Organisationen, die mit ihnen arbeiten, umhört, erfährt von bedrückenden Schicksalen: Etwa von einem 67-Jährigen aus Charkiw mit chronischer Herzinsuffizienz, der eine österreichische Rückforderung von knapp 1300 Euro bekam.
Reduktionen und Rückzahlungen
Oder von einem Ehepaar, beide Mitte 70, sie mit Krebs in fortgeschrittenem Stadium; wegen ihrer ukrainischen Pensionen wurde das Paar aufgefordert, 3500 Euro zurückzuzahlen. Zudem wurden die Eheleute wegen Sozialbetrugs angezeigt, nun droht ihnen eine Ersatzfreiheitsstrafe.
Oder die Geschichte einer 92-Jährigen, die wegen ihrer Pensionsbezüge aus der Ukraine eine Rückforderung von 2500 Euro erhalten hat.
Oder jene einer 67-jährigen Diabetikerin mit Nierenerkrankung, die 5000 Euro hätte zurückzahlen müssen. Ihre Summe wurde auf 2700 Euro reduziert, monatlich jedoch hat sie lediglich 90 Euro zur Verfügung, davon stottert sie 50 Euro für ihre Rückzahlung ab. Die Frau hat Suizidgedanken, sagen ihre Betreuer bei der Diakonie in Tirol.
Kürzungen auch in Wien
Wien trägt die Hauptlast der Ukraineversorgung, die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer kamen in der Bundeshauptstadt an und leben da auch. In Wien gebe es keine Kürzungen für Pensionisten, ließ sich Sozialstadtrat Peter Hacker (SPÖ) bei Ö1 zitieren. Man sei gespannt, so das rote Wiener Stadtratsbüro, ob der Innenminister, der gemeinsam mit den Ländern für die Grundversorgung zuständig ist, Alten und Hilfsbedürftigen wirklich ihre kleinen Pensionen von der Grundversorgung abziehen will. Bei jenen 2700 Menschen aus der Ukraine, die über 60 Jahre alt sind und in Wien leben, sei es zu keinerlei Kürzungen oder Rückforderungen gekommen, erklärt das Stadtratsbüro. Nur: Das stimmt nicht. All das passierte auch in Wien. Svitlana Rhyzova ist eine von ihnen, sie lebt in Wien-Landstraße. Dass ihre Gelder gekürzt wurden, hat sie schwarz auf weiß.
Organisationen, die mit ukrainischen Geflüchteten in Wien arbeiten und diese beraten, berichten von vielen Anfragen und viel Verunsicherung. Niemand scheint so recht einen Überblick darüber zu haben, bei wie vielen Personen in Wien es bereits tatsächlich zu Kürzungen gekommen ist. Die Caritas, die im Auftrag des Fonds Soziales Wien (der dem Stadtratsbüro Hacker untersteht) die Grundversorgungsleistungen für jene auszahlt, die privat untergebracht sind, kann auf profil-Nachfrage keine Zahlen nennen. Die Caritas betreibt jedoch selbst vier Häuser in Wien, und dort seien 120 ukrainische Senioren von den Kürzungen betroffen gewesen.
Das Büro Hacker rudert auf Nachfrage von profil zurück. Man werde sich diese Wiener Fälle noch einmal ansehen. Sämtliche Kürzungen würden vorerst ausgesetzt und bis auf Weiteres nicht mehr durchgeführt, das habe Stadtrat Hacker veranlasst.
Keine Änderung bei Freibeträgen
Wien pocht jedoch, wie die NGOs, weiterhin auf die Umsetzung eines Vorschlags des Flüchtlingskoordinators Achrainer. Dabei müsste man nichts Neues erfinden, sondern etwas anwenden, das es ohnehin schon gibt: einen Freibetrag von 110 Euro, der bereits jetzt bei Arbeitseinkünften zur Anwendung kommt. Wer in diesem Rahmen dazuverdient, dem droht keine Kürzung der Grundversorgung. Und so sollte es auch bei den Pensionisten sein.
Das Innenministerium jedoch winkt auf Anfrage ab: Die Länder seien für die Versorgung der Vertriebenen zuständig. Und: Es werden keine Freibeträge gewährt, das sei bereits 2012 einstimmig zwischen Bund und Ländern im Koordinationsrat beschlossen worden, da gibt es auch keine Änderung.
Die Kürzungen um die Pensionen verschärfen ein Problem, das ohnehin schon von Beginn an existiert hat: Dass die Vertriebenen aus der Ukraine mit der Grundversorgung je nach Unterbringungsart um die 400 Euro beziehen, sei viel zu wenig für ein würdiges Leben, kritisierten in den vergangenen Jahren nicht nur NGOs. AMS-Chef Johannes Kopf plädierte dafür, die Ukrainer in die Mindestsicherung zu nehmen. Doch alle Rufe blieben ungehört, stattdessen werden die Schrauben immer fester gezogen. „Unser großes Ziel ist es, ukrainische Menschen in den Arbeitsmarkt zu bekommen und ihnen dadurch ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen“, sagt Flüchtlingskoordinator Achrainer. „Menschen im Pensionsalter werden aber nicht mehr arbeiten, und deswegen sollten wir sie auch nicht wegen solcher Micky-Maus-Beträge schikanieren.“
Zweieinhalb Jahre nach Kriegsbeginn in der Ukraine müssen sich die nach Österreich Geflüchteten bei Essensausgaben anstellen, weil sie sonst nicht über die Runden kommen. Zum Beispiel bei Train of Hope in Wien-Liesing, einer Organisation, die die Ukrainehilfe mit Freiwilligen und Spenden substanziell getragen hat. In einem alten Haus wird eine Art Supermarkt simuliert. Hier können sie sich mit Spenden eindecken. Svitlana Rhyzova kommt hierher für Butter, Nektarinen, Gurken, Eier, Shampoo, Pflegecremen.
Im Juni hatten 83.686 Ukrainerinnen und Ukrainer Vertriebenenstatus in Österreich. In den kommenden Wochen wird profil in mehreren Beiträgen deren Lebenssituation beleuchten.