Die Gespräche waren schon nach einer Stunde vorbei, und am Ende einigte man sich lediglich über den Austausch von Gefangenen...
Kyslytsya
Es ging etwas länger als eine Stunde. Sie müssen verstehen, dass der Begriff Verhandlungen auf das Istanbul-Format nicht wirklich zutrifft. Wir saßen zwar im selben Raum, doch die Gespräche waren nicht aufrichtig. Die russische Seite hat bei beiden Treffen eine Reihe von Ultimaten vorgelegt. Es war klar, dass beide Seiten, die Russen wie wir, nicht mit leeren Händen aus diesem Gespräch herausgehen können. Die Russen waren froh, als wir uns auf den Austausch von tausend Kriegsgefangenen einigten. Dabei blieb es, politisch gab es keine Fortschritte.
Wieso finden die Gespräche in Istanbul statt?
Kyslytsya
Moskau will eine Kontinuität nach den gescheiterten Gesprächen von 2022 konstruieren. Am Anfang unseres Treffens im Mai 2025 sagten die Russen: Wir haben damals 17 Seiten mit Forderungen vorgelegt, darauf wollen wir aufbauen. Das lehnten wir ab. Die jetzigen Gespräche stehen nicht in Kontinuität mit jenen von 2022.
Damals wäre die Ukraine bereit gewesen, sich zur Neutralität zu verpflichten und die Stationierung ausländischer Soldaten auszuschließen. Die Forderungen Russlands sind seit Kriegsbeginn weitgehend dieselben. Gab es je Signale aus Moskau, dass es zu Kompromissen bereit wäre?
Kyslytsya
Nein.
Wie laufen solche Verhandlungen eigentlich ab?
Kyslytsya
Zu den Gesprächen erscheinen Vertreter mehrerer Behörden. Meistens spricht Medinski, selten auch der Vize-Verteidigungsminister oder Vize-Außenminister. Medinskis Eignung als Delegationsleiter besteht offenbar in seinem direkten Gesprächskanal mit Putin. Einen solchen haben nicht viele. Im Mai und Juni hat Medinski Forderungen auf den Tisch gelegt, die noch schlimmer waren als jene zu Kriegsbeginn. Das spiegelt nicht die militärischen Fakten wider, denn die Ukraine ist jetzt viel stärker als im Frühjahr 2022.
Seither hat Russland viele Gebiete erobert.
Kyslytsya
Schrittweise. Wenn es so weitergeht, dann brauchen sie Jahrzehnte, um ihre Ziele zu erreichen. Sie sind eine starke Militärmacht, aber das ist ein Abnutzungskrieg, in dem keine Seite den großen Durchbruch schaffen kann.
Haben die militärischen Erfolge der Ukraine, zuletzt etwa die „Operation Spinnennetz“, in der die Ukraine russische Kriegsflugzeuge mithilfe von Drohnen zerstörte, Auswirkungen auf die Verhandlungen?
Kyslytsya
Diese Operation fand in der Nacht vor den letzten Verhandlungen in Istanbul statt. Danach änderten die Russen ihren Ton. Sie formulierten ihre Forderungen aggressiver. Normalerweise ist der Ton recht höflich, was in krassem Widerspruch zum toxischen Inhalt des Gesagten steht. Sie sitzen vor der ukrainischen Delegation, also den Ministern für Verteidigung, dem Vize-Außenminister, den Chefs der Armee, der Marine und der Luftstreitkräfte, sie sehen uns in die Augen und sagen: In diesem Krieg töten Russen Russen, wir müssen das stoppen.
Was antworten Sie darauf?
Kyslytsya
Nichts, denn wir waren uns einig, dass wir uns nicht provozieren lassen.
profi
Was müsste geschehen, damit Verhandlungen eine Chance haben?
Kyslytsya
Es gibt dafür zwei Möglichkeiten: Putin ändert seine Haltung – das ist hoffnungslos, denn er lebt in einer anderen Welt. Oder Trump macht der Sache ein Ende. Wir wollen, dass die USA sich eindeutig positionieren. Am Beginn des ersten Treffens in Istanbul sagten wir: Wo sind die Amerikaner? Wir wollten, dass sie an den Gesprächen teilnehmen, und wir dachten, dass dies auch geschehen würde. Die Russen antworteten: Wir sind nur autorisiert, bilaterale Gespräche zu führen. Die Russen wollen die Amerikaner nicht dabei haben. Wir aber halten die Anwesenheit der USA für die Voraussetzung für einen Durchbruch bei den Verhandlungen. Wir denken auch, dass sich ein Konflikt, der so ausschlaggebend für die Europäer ist, nicht ohne diese lösen lässt.
Europa ist schon lange ausgeschlossen.
Kyslytsya
Genau. Aus Sicht Moskaus gibt es eine Neuordnung am Olymp des Bösen: Amerika hat ihn verlassen, jetzt sitzen dort noch die Ukraine und Europa, welches die Unterstützung für uns nicht aufgegeben hat.
Selenskyj fordert US-Sanktionen gegen Russland, das würde die Chancen der Verhandlungen erhöhen. US-Außenminister Marco Rubio behauptet im Gegenteil, Sanktionen würden die Aussichten auf Frieden torpedieren...
Kyslytsya
Selbstverständlich sollten die Sanktionen verschärft werden. Die Kriegsfähigkeiten des Aggressors zu beschneiden, ist nicht nur wirtschaftlich und politisch, sondern auch moralisch richtig. Wir denken, dass Russland ab Juni oder Juli kommenden Jahres Schwierigkeiten bei der Finanzierung seines Krieges haben wird. Helfen könnte ihnen, wenn der Ölpreis wegen der Situation im Nahen Osten steigt. Doch früher oder später gibt es für Moskaus Krieg ein Ablaufdatum.
Gibt es eine Forderung Russlands, mit der die Ukraine leben könnte?
Kyslytsya
Nein. Haben Sie gesehen, was Moskau fordert?
Zu den Forderungen gehören ein Ende der westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine, der komplette Rückzug aus Donezk, Luhansk, Saporischschja und Kherson, die Anerkennung aller annektierten Gebiete inklusive der Krim und die Verpflichtung zur Neutralität.
Kyslytsya
Die Ukraine ist eine Demokratie. Der Präsident kann dem Volk nichts aufdrängen, das es ablehnt. Jeder Politiker, der die Abgabe von ukrainischen Gebieten an Russland vorschlagen würde, wäre sofort weg.
Wäre es für die Ukraine denkbar, zu den Grenzen von vor dem Beginn des Angriffskriegs im Februar 2022 zurückzukehren?
Kyslytsya
Laut einer aktuellen Umfrage sind 78 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer gegen die rechtliche Anerkennung der Besatzung. Etwas weniger als die Hälfte wären wohl bereit, den Ist-Zustand zu akzeptieren. Doch bei rechtlichen Zugeständnissen sieht es anders aus.
Ist es also vorstellbar, zur Grenzziehung vor dem Februar 2022 zurückzukehren?
Kyslytsya
Nein. Die Russen müssen alle besetzten Gebiete verlassen.
Auch die Krim?
Kyslytsya
Die Besetzung der Krim ist für Russland sehr schwer zu halten. Militärisch wäre es einfacher, von der Krim abzuziehen als aus den Gebieten in der Ostukraine, die an Russland grenzen. Die Krim ist wirtschaftlich für Russland nicht zukunftsfähig, nicht einmal in Friedenszeiten. Das kostet zu viel, auch deswegen wurde sie in den 1950er Jahren an die Ukraine abgegeben.
Die Krim ist also kein Gegenstand für Verhandlungen?
Kyslytsya
Wir haben in Istanbul nie den Punkt erreicht, an dem wir Gebiete verhandelt hätten. Das ist kein Austausch von Argumenten, kein Versuch, Kompromisse zu finden. Sie kommen nach Istanbul und legen ihre Forderungen auf den Tisch. Das war's.
Es leuchtet ein, dass die Ukraine Russlands Maximalforderungen nicht akzeptieren kann. Doch wenn Frieden erreicht werden soll, müssen beide Seiten früher oder später Kompromisse eingehen. Wo könnte die Ukraine Russland entgegenkommen?
Kyslytsya
Deswegen haben wir dem Vorschlag der Amerikaner nach einem bedingungslosen Waffenstillstand zugestimmt. Doch das wollen die Russen nicht. Vor einer Waffenruhe verlangen sie den Abzug der ukrainischen Truppen aus allen von ihnen beanspruchten Gebieten. Das ist mehr, als sie besetzt haben. Sie wollen, dass wir kapitulieren.
Was wäre die Ukraine bereit, ab- oder aufzugeben?
Kyslytsya
Unser Kompromiss ist, dass wir bereit sind, mit Russland zu verhandeln. Sie müssen verstehen, dass die Ukrainer ihr Land verteidigen wollen. Putin dachte, je mehr Ukrainer er tötet, desto eher werden wir uns ergeben. Doch das Gegenteil ist der Fall. Aber Putin gibt nicht auf. Er bombardiert ukrainische Städte. Deswegen bitten wir unsere Partner in Europa, uns zu helfen, damit wir uns selbst verteidigen können.
Welche Verhandlungen finden im Hintergrund statt?
Kyslytsya
Wir verhandeln über den Austausch von Kriegsgefangenen. Das letzte Mal ging es um die Rückkehr von Schwerverletzten, schwer Kranken und jungen Soldaten, die nach 2000 geboren wurden. Es gab Fälle, in denen Russland tote Russen schickte anstatt ukrainischer Soldaten. Nach unseren Informationen konnten die Russen von den Leichnamen, die sie zu übergeben beabsichtigten, nur etwa 15 bis 20 Prozent verifizieren.
Wann werden die nächsten offiziellen Verhandlungen mit Russland stattfinden?
Kyslytsya
Aus dem Kreml hieß es eigentlich, das solle nach dem 20. Juni geschehen. Das Istanbul-Format ist erschöpft, doch wir werden uns, sollte danach verlangt werden, jederzeit mit Russland an den Tisch setzen.
In welcher Sprache wird eigentlich verhandelt?
Kyslytsya
Russisch, Ukrainisch, Türkisch und Englisch.
Das heißt, Sie verstehen alles, was die Russen sagen, aber umgekehrt sprechen die Russen kein Ukrainisch?
Kyslytsya
Medinski wurden in der Ukraine geboren und ist dort aufgewachsen. Ich weiß nicht, ob er Ukrainisch versteht. Die Russen sprechen Russisch, die Türken Türkisch oder Englisch und wir alles außer Türkisch. Die Türken machen einen tollen Job. Sie stellen Dolmetscher zur Verfügung, sie eröffnen und schließen das Treffen, aber sie vermitteln nicht.
Sie sprechen während der Verhandlungen Russisch?
Kyslytsya
Es gab einen Moment, beim zweiten Treffen, als Medinsky ziemlich aufgebracht war und laut wurde. Ich musste das Wort ergreifen und sagte: „Erlauben Sie mir, Sie daran zu erinnern, Herr Medinsky, dass ich nicht für Sie arbeite, nicht für die russische Regierung. Also bitte erheben Sie nicht die Stimme, wenn Sie mit uns sprechen.“ Ich habe das auf Russisch gesagt. Außerdem sagte ich: „Ich hoffte, wir wären in einem ernsten Treffen, aber es sieht aus wie ein weiterer Sicherheitsrat im Stil von Nebenzia.“
Wieso hat er sich so aufgeregt?
Kyslytsya
Er und seine Familie wurden auf einer bekannten ukrainischen Webseite gelistet, die Namen von Russen sammelt, die als Feinde der Ukraine gelten. Das fand er ungerecht. Ich erklärte ihm, dass die Regierung mit dieser Webseite nichts zu tun hat und erinnerte ihn daran, was er bei einer vorherigen Verhandlungsrunde gesagt hatte: Dass einige der ukrainischen Verhandler künftig Angehörige verlieren würden. Die Presse griff das als Drohung auf. Zuvor war der Sohn meiner Schwester getötet worden. Er war 23 Jahre alt. An all das erinnerte ich Medinski, woraufhin er sehr emotional wurde.
All das ereignete sich während der Gespräche?
Kyslytsya
Ja.
Es wird also durchaus emotional und persönlich?
Kyslytsya
Als Botschafter bei den Vereinten Nationen in New York war ich bei mehr als 150 Treffen, bei denen es ausschließlich um die Ukraine ging. Ich musste jeden zweiten Tag mit den Russen am Tisch sitzen. Ich habe so viel vergifteten Unsinn gehört, dass ich mich schützen müsste, damit es mich nicht auffrisst. Was auch immer Medinski sagt, es trifft mich nicht. Ich bin zu einer sehr zynischen Person geworden.