Volksanwalt Bernhard Achitz: Kritik an der Aufsicht der Bundesländer
Volksanwalt zu SOS-Skandal: „Bei der Aufsicht liegen Dinge im Argen“
Herr Volksanwalt, Sie haben sich bisher nur zurückhaltend zu den Missbrauchsvorwürfen in SOS-Kinderdörfern geäußert, obwohl Sie für Kinderschutzeinrichtungen zuständig sind. Warum?
Achitz
Aufgrund der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und aus Rücksicht auf die Kinder wollen wir unsere Wahrnehmungen nicht in der Öffentlichkeit diskutieren, sondern werden mit den Behörden zusammenarbeiten, wenn sie an uns herantreten.
Können Sie bestätigen, dass Sie die SOS-Heime kontrolliert haben?
Achitz
Unsere Menschenrechtskommissionen führen im Jahr 450 unangekündigte Kontrollen durch. Da sind Pflegeheime, aber auch die Einrichtungen von SOS-Kinderdorf dabei. In 60 Prozent der Fälle stellen wir Verfehlungen fest, die wir an die Einrichtungen und die Aufsichtsbehörde – also die Bundesländer – melden.
Haben Sie bei den SOS-Kinderdörfern etwas festgestellt?
Achitz
Ja. Aber man darf sich das nicht so vorstellen, dass unsere Teams vor Ort Zeugen von Missbrauch werden. Wir sind nicht für die Aufklärung der Vergangenheit zuständig, sondern für die Präventive Menschenrechtskontrolle. Wir schauen also darauf, dass die Jugend-WGs so organisiert und ausgestattet sind, dass es möglichst gar nicht zu Menschenrechtsverletzungen kommt. Es ist meist so, dass wir die internen Dokumentationen in den Heimen durchsuchen – und über Auffälligkeiten mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Einrichtung sprechen. Wir hinterfragen, wie die internen Abläufe bei Missbrauchsvorwürfen waren, an wen es gemeldet wurde und welche Konsequenzen es gab. Wir fragen auch immer, ob die Kinder externe Anlaufstellen kennen, etwa Kinder- und Jugendanwaltschaften.
Es kommen jede Woche neue Vorwürfe gegen SOS Kinderdorf ans Licht, das deutet auf ein größeres Systemversagen hin. Was ist da los?
Achitz
Ein Problem, das wir stark sehen und kritisieren: Die Betreuerinnen und Betreuer in den Kinderschutzzentren haben für diese sensible Arbeit oft nicht die passende Ausbildung. FICE Austria, die Gesellschaft für erzieherische Hilfen, hat im Jahr 2019 ein Buch mit Mindeststandards ausgearbeitet. Da haben alle Bundesländer gesagt: Super. Umgesetzt hat das bisher keiner.
Hätten die Länder unsere Empfehlungen immer aufgegriffen, wären manche Missbrauchsfälle vielleicht nie passiert.
Volksanwalt
Wie kann es eigentlich sein, dass die Aufsichtsbehörden der Länder diese Fälle jahrelang nicht entdeckt haben?
Achitz
Das kann sowohl an Meldeverstößen liegen, aber auch an inkonsequenter Verfolgung. Bei der Aufsicht der Länder liegen tatsächlich Dinge im Argen. Wir haben vor wenigen Jahren ein Senecura-Pflegeheim in Salzburg kontrolliert und grobe Pflegemängel festgestellt. Dann sind wir draufgekommen, dass die Aufsicht des Landes ein paar Wochen vorher dort war. Das haben wir uns natürlich mit Interesse angeschaut. Doch deren Bericht hat sich bloß mit Hygienefragen beschäftigt, für Pflegemängel haben sie sich gar nicht zuständig gefühlt – das sei die Verantwortung des Betreibers, haben sie behauptet. Selbst nach unserer Kritik zeigte sich die Aufsicht kaum einsichtig.
Ist das im Kinderschutzbereich ähnlich?
Achitz
Nicht auszuschließen.
Welche Gründe gibt es für die lasche Aufsicht?
Achitz
Das Problem am aktuellen Modell ist: Die Länder definieren die Standards, die die Betreiber einhalten müssen. Gleichzeitig legen sie die Höhe der Taggelder pro Kind fest. Wenn die Länder die Einhaltung der Standards streng kontrollieren, könnten die Vertragspartner sagen: Wenn ihr diese Standards wollt, müsst ihr unsere Tagsätze erhöhen.
Könnte das ein Anreiz für die Länder sein, eher schwammig und unverbindlich zu kontrollieren?
Achitz
Auch das ist nicht auszuschließen. Tatsache ist, auch der Rechnungshof empfiehlt einzelnen Bundesländern, die Unabhängigkeit der Aufsicht organisatorisch sicherzustellen.
Wären die Aufsichtsbehörden beim Bund besser aufgehoben? Damit nicht die Auftraggeber der Betreiber – die Länder – auch gleichzeitig die Kontrolleure ist?
Achitz
Das löst am Grundproblem nichts, dass die Tagsätze zum Teil im Widerspruch zu den Standards stehen. Am Ende werden uns die prekären Gruppen mehr Geld kosten, wenn wir Kinderschutz und Kinderrechte einhalten wollen. Aktuell geht die Diskussion leider in die Gegenrichtung.
Wie geht es Ihnen damit, dass es österreichweit neun verschiedene Mindeststandards für die Unterbringung von Kindern gibt?
Achitz
Die Kinder- und Jugendhilfe wurde 2019 per Verfassungsgesetz zur Länderangelegenheit, und seitdem kritisiert die Volksanwaltschaft das. Die Bundesländer und SOS-Kinderdorf wurden zum Beispiel darauf hingewiesen, dass ihr Modell der SOS-Kinderdorf-Mutter nicht mehr zeitgemäß ist. Hätten die Länder unsere Empfehlungen immer aufgegriffen, wären manche Missbrauchsfälle vielleicht nie passiert. Also: Ja, österreichweit einheitliche und vor allem höhere Standards wären sinnvoll und würden helfen. Die Frage ist: Wollen wir uns das leisten?