Warum das NS-Verbotsgesetz wieder Hochkonjunktur hat
80 Jahre nach Kriegsende nimmt die Zahl der Strafverfahren nach dem NS-Verbotsgesetz sogar zu. Der Prozess gegen einen angesehenen Antiquar wirft die Frage auf: Wendet die Justiz das Gesetz zu streng an?
Eine 32-Jährige aus dem Suchtgiftmilieu brüllt einem Wiener Parksheriff „Sieg Heil“ entgegen und wird angezeigt.
In Gosau sollen junge Lokalgäste „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ gesungen haben. War auch ein Hitlergruß im Spiel? Die Staatsanwaltschaft ermittelt.
Der Ex-Chefredakteur des eingestellten Magazins „Aula“ wird (nicht rechtskräftig) zu vier Jahren Haft verurteilt. Er soll in Artikeln Rassenlehre und Antisemitismus propagiert haben.
Prozessbeginn gegen einen 27-Jährigen mit türkischen Wurzeln, der einen Brandanschlag auf den jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs verübt haben soll.
FPÖ-Abgeordneter Gerhard Deimek wird vom Nationalrat an die Staatsanwaltschaft „ausgeliefert“. Er hatte Ukrainer mit Hakenkreuz-Tattoos gepostet – als Kritik an der Ukraine.
Fünf Fälle aus den letzten drei Monaten, die zeigen, welche Wirkung das NS-Verbotsgesetz quer durch Österreich entfaltet – vom Wirtshaushinterzimmer bis ins Parlament.
Allein von 2020 bis 2023 gab es über 10.000 Strafverfahren nach dem Verbotsgesetz. Laut aktuellen Zahlen des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW) kamen im vergangenen Jahr weitere 3460 Strafverfahren dazu. Eine Steigerung im Vergleich zu 2023 von fast 25 Prozent. Und die Tendenz geht weiter nach oben.
Das Verbotsgesetz aus 1947 hält die Strafverfolgungsbehörden 80 Jahre nach Kriegsende gehörig auf Trab. Es scheint aktueller denn je. Oder wird es derzeit bloß überschießend angewandt? Diese Kritik kommt meist von Bürgern oder Politikern aus dem weit rechten Lager, die sich in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt und verfolgt fühlen.
Der Prozess gegen einen Wiener Antiquar evoziert nun Kritik aus unerwarteter Richtung. Der Buchhändler, der sich selbst als „aufrechten Antifaschisten“ bezeichnet, bot Bücher mit NS-Propaganda aus Forschungsbeständen über seinen Online-Shop an.
Dadurch handelte er sich monatelange Ermittlungen und einen Prozess wegen Wiederbetätigung ein. Stammkunden des Antiquars, wie der Doyen der österreichischen Zeitgeschichte, Oliver Rathkolb, können das Vorgehen der Justiz im konkreten Fall nicht nachvollziehen. Die Wochenzeitung „Falter“ sieht einen waschechten „Justizskandal“ und berichtete groß darüber. Am Donnerstag wurde der Antiquar schließlich von allen acht Geschworenen freigesprochen.
Ist Verbotsgesetz gar „kontraproduktiv?“
„Falter“-Herausgeber Armin Thurnher wurde aber grundsätzlich: „Das Verbotsgesetz ist vermutlich längst kontraproduktiv. Denn es macht den Tatbestand des Hitlerismus spannend, weil verboten, während er vor der Geschichte und dem Alltagsverstand einfach unter die Kategorie ,hirnrissig‘ fällt“, schrieb er in einem Kommentar.
Der Fall ist einzigartig, denn bisher galten nicht Antiquariate, sondern Flohmärkte als übliche Tatorte für die Verbreitung von NS-Schriften. Aber taugt er auch dazu, das Verbotsgesetz grundsätzlich infrage zu stellen? Als Beleg für dessen Antiquiertheit? Oder fehlende Treffsicherheit?
Fünf Jahre für einen Hitlergruß?
Der Eindruck, dass jährlich Hunderte Menschen zu jahrelangen Haftstrafen verknackt werden, vom unverdächtigen Buchhändler bis zur Süchtigen, die „Heil Hitler“ brüllt, wäre jedenfalls falsch. Das Verbotsgesetz wurde über die Jahrzehnte mehrfach reformiert. Bis 1992 lag die Mindeststrafe bei Verstößen bei fünf Jahren.
Das führte allerdings dazu, dass es kaum Verurteilungen gab. Denn die Geschworenen schreckten davor zurück, einen Hitlergruß derart drakonisch zu bestrafen. Das Verbotsgesetz blieb dadurch fast totes Recht.
Handhabe gegen „Auschwitz-Lüge“
Neues Leben hauchte ihm die Novelle 1992 ein. Die Mindeststrafe sank auf ein Jahr, im Gegenzug wurde das Delikt der NS-Wiederbetätigung (Paragraf 3g Strafgesetzbuch) um die Leugnung oder gröbliche Verharmlosung des Holocaust (Paragraf 3h) erweitert – eine Handhabe gegen die „Auschwitz-Lüge“. Die Anzahl der Strafverfahren und Verurteilungen stieg.
Die zweite grundlegende Reform ist erst zwei Jahre alt. 2023 wurde die Mindeststrafe weiter auf sechs Monate gesenkt. Im Gegenzug wurde jegliche Verharmlosung des Holocaust strafbar, nicht nur die „gröbliche“. Die Zahl der Anzeigen und Verfahren stieg weiter. Doch es wurde auch die Möglichkeit einer Diversion eingeführt. Reuigen Tätern bleiben Vorstrafen erspart, wenn sie ein Sensibilisierungsprogramm durchlaufen.
Linker Rastafari muss nach Mauthausen
In Zahlen: Bei 3460 laufenden Strafverfahren im Jahr 2024 wurden 1958 eingestellt. Es gab 40 Freisprüche, 177 Verurteilungen und 131 Diversionen. Das zeigt: Der Verdacht auf NS-Wiederbetätigung wird in Österreich streng verfolgt, dann aber oft fallengelassen.
Sollte sich die Justiz gleich stärker auf einschlägige Kreise konzentrieren? Und weniger auf Personen wie den Antiquar oder einen linken Rastafari, der sich 2018 nach dem Verbotsgesetz verantworten musste? Er hatte den früheren ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz mit Adolf Hitler verglichen. Er bekam eine Diversion und absolvierte ein Programm in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Auch im Fall der Suchtkranken oder des „ausgelieferten“
FPÖ-Politikers halten Kenner der Materie Einstellungen oder Freisprüche für wahrscheinlicher als Schuldsprüche.
NS-Ideologie flammt wieder auf
„Fälle wie jener des Antiquars sind seltene Blüten. Der Normalfall sind die harten Sachen“, sagt der wissenschaftliche Leiter des DÖW, Andreas Kranebitter, und bringt das Beispiel einer Familie, die bewusst den Hitlergruß zeigt; oder von rechtsextremen Chat-Gruppen, in denen Hitler-Memes herumgeschickt werden. Das Verbotsgesetz sieht er weiterhin als „wesentlichen Gradmesser“ für den steigenden Rechtsextremismus im Land. Denn im Windschatten nehme auch die „harte NS-Ideologie“ wieder zu.
Der ausgewiesene Rechtsexperte für das Verbotsgesetz Alois Birklbauer von der Johannes Kepler Uni Linz verweist auf eine weitere Grundfunktion des Verbotsgesetzes: „Wehret den Anfängen.“ Gerade in Zeiten von Social Media sensibilisiere es junge Menschen sehr direkt dafür, dass man keine Hitler-Bilder verschicken oder online einfach so gegen Juden hetzen dürfe.
Judensterne auf Corona-Demos
Der Spielraum der Justiz, nach dem Verbotsgesetz Anklage zu erheben oder nicht, sei sehr groß,
sagt Birklbauer allerdings auch dazu. So habe die eine Staatsanwaltschaft das Tragen von Judensternen auf Corona-Demos rigoros verfolgt, weil holocaustverharmlosend, während andere Staatsanwälte nicht einmal einen Anfangsverdacht sahen. Darüber könne man diskutieren, meint Birklbauer. Ebenso darüber, ob Ausländerhetze mit oder ohne NS-Bezug weiterhin so unterschiedlich hoch bestraft werden soll. Das Verbotsgesetz abzuschaffen, wäre für den Experten aber „das falsche Zeichen“.
Eine zu strenge Polizei und Justiz kann das Mauthausen-Komitee beim NS-Verbotsgesetz nicht erkennen. Vielmehr warnt man vor einer „Entwicklung zur Straflosigkeit“. Ermittlungen würden zu oft eingestellt.
Ein Forum für Debatten könnte der Nationale Aktionsplan gegen Rechtsextremismus eröffnen, den die Regierung laut ihrem Programm in Aussicht stellt. Das Verbotsgesetz selbst wird nach der Reform 2023 weiterhin evaluiert und mit Blick auf umstrittene Verfahren vielleicht feinjustiert.
Eine Abschaffung wird dabei wohl niemand aufs Tapet bringen.
ist seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor „Wiener Zeitung“, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.