Österreich

Warum liegen in Wien so viele Covid-Patienten in den Intensivstationen?

Michael Binder, wichtigster Spitalsmanager der Stadt, gibt Auskunft – und zugleich Entwarnung: Über die gefürchtete „Triage“ habe man in der Pandemie niemals nachdenken müssen.

Drucken

Schriftgröße

profil: Fast 40 Prozent aller Covid-Intensivpatienten liegen in Wiener Spitälern. Werden die Wiener in größerer Zahl schwer krank als etwa die Tiroler? Oder gibt es einen anderen Grund für diese Häufung?
Binder: Ich kann Ihnen nicht direkt einen Grund nennen. Wir rechnen uns gerne relativ kleine Differenzen zwischen Bundesländern aus und versuchen, daraus auf das Verhalten oder den Gesundheitszustand der Population zu schließen. Fakt ist: Die Infektionen verlaufen in Clustern, und es können regionale Differenzen auftreten.
 

profil: Die Intensivstationen in Wien waren schon in der dritten Welle besonders voll. Man kann durchaus den Eindruck haben, Corona treffe die Wiener besonders.
Binder: Die Biologie des Wieners und der Wienerin unterscheidet sich nicht von anderen. Richtig ist, dass in Metropolen teilweise andere Gesundheitszustände gemessen werden als auf dem Land.

profil: Gelten in ganz Österreich die gleichen Regeln, wann ein Patient mit Covid auf die Intensivstation verlegt wird?
Binder: Natürlich gibt es Leitlinien, die überall gleich sind. In Ihrem Artikel vor einer Woche („Wiener Schmäh“, profil 37/21) steht ein Zitat, wonach man in Wien schon als Intensivpatient gelte, wenn man eine Sauerstoffbrille braucht. Das ist falsch. Sie können sich gerne unsere ICUs, also  Intensiv Care Units, anschauen. Dort liegt kein einziger Patient, der diese Betreuung nicht dringend nötig hat.

profil: Allerdings werden Menschen als Intensivpatienten gezählt, die gar nicht auf der Intensivstation liegen – wenn sie etwa Sauerstoff bekommen, aber nicht intubiert sind.
Binder: Die Intubation ist kein Kriterium. Es gibt die sogenannte Hochfluss-Sauerstofftherapie, die wir sowohl in der Intensivpflege anwenden als auch unter ausgewählten Bedingungen in normalen Stationen. Das ist aber keine Sauerstoffbrille, sondern eine spezielle Therapie für Menschen, die sehr krank sind und bereits unter Sauerstoffmangel in den Organen leiden.

profil: Wien könnte im Höchstfall 364 Intensivbetten für Covid-Kranke bereitstellen. Derzeit ist etwas mehr als ein Fünftel belegt. Warum müssen Sie jetzt schon Operationen verschieben?
Binder: Das hat einen einfachen Grund: Sie können in einer Intensivstation keine Mischbelegung vornehmen – also Corona-Infizierte und andere Kranke gemeinsam. Man muss das stationsweise teilen. An einigen Häusern kommt es deshalb zu Engpässen.

profil: Gesundheitsstadtrat Peter Hacker hat Ende August angekündigt, dass die Stadt wegen Covid 25 zusätzliche Intensivbetten für Kinder bereitstellen wird. Sind Sie mir böse, wenn ich das für reine Panikmache halte?
Binder: Ich bin Ihnen nicht böse, ich möchte Sie nur ein wenig aufklären: Die Delta-Mutation ist extrem ansteckend und grassiert besonders stark unter Kindern. Das führt zu einer Mehrbelastung der Intensiveinheiten. Dazu gibt es ausreichend Daten aus den USA und aus Großbritannien.

profil: In Großbritannien haben mehrere Universitäten in einer gemeinsamen Studie untersucht, wie der Krankheitsverlauf bei Kindern war. Ergebnis: noch milder, als man dachte. Zwei von einer Million Kinder starben an Covid, auch die Zahl der Krankenhauseinweisungen war äußerst niedrig. Österreichische Experten rechnen mit einem schweren Verlauf bei einem von 1000 infizierten Kindern. Warum kalkuliert Wien mit der totalen Eskalation?
Binder: Eine Gegenfrage an Sie: Halten Sie es nicht für angemessen, dass wir uns ordentlich vorbereiten?

profil: Doch, natürlich. Aber es ist etwas anderes, ob man ein Worst-Case-Szenario durchspielt, oder den Leuten mitteilt, dass möglicherweise bald 25 Kinder mit dem Tod ringen.
Binder: Ich halte sehr viel davon, dass wir uns gut vorbereiten. Das war auch die Aussage des Stadtrats.

profil: Österreich hat im internationalen Vergleich besonders viele Intensivbetten. Wie schaffen es Länder mit deutlich weniger Kapazitäten durch die Pandemie, während bei uns dauernd vor einer drohenden Triage gewarnt wird?
Binder: Wer spricht von Triage? Dafür besteht überhaupt keine Notwendigkeit.

profil: Das war in den vergangenen 20 Monaten immer wieder das Schreckensszenario.
Binder: Von mir haben Sie das nicht gehört. Wir haben derzeit keinen Hinweis, dass Triage notwendig werden könnte. Es ist in der Intensivmedizin immer notwendig, das Therapieziel zu definieren. Daran hat sich auch unter Corona nichts geändert. Über die Art von Triage, die Sie meinen, haben wir in Wien nie gesprochen.

profil: Was wissen Sie über die Covid-Patienten in den Wiener Spitälern?
Binder: Die Patienten sind relativ jung, nur etwa 35 Prozent sind älter als 60. Acht von zehn Patienten auf den Normalstationen und neun von zehn auf Intensivstationen sind nicht oder nur teilweise geimpft. Die Impfung wirkt, das zeigt sich sehr deutlich.

profil: Wien ist bei der Impfquote nur im Mittelfeld. Warum?
Binder: Ich verwehre mich dagegen, Zeit zu verschwenden, indem wir Bundesländervergleiche anstellen. Es geht um das Wesentliche: Sind wir als Nation in der Lage, eine hohe Durchimpfungsrate zu erzielen? Wir benötigen insgesamt plus zehn Prozent. Das muss erreichbar sein. In Portugal, Spanien, Dänemark ist das gelungen, und der Infektionsdruck wurde deutlich geringer. Wie kommen wir zu diesem Ziel? Über vertrauenswürdige Information der Bevölkerung. Wir müssen den Leuten sagen, wie die Impfung wirkt, wie sich eine Infektion auswirken kann und welche Folgen die Pandemie für die Gesellschaft hat.

profil: Vielleicht sollte man über Anreizsysteme nachdenken?
Binder: Es gibt dazu viel Literatur. Der finanzielle Anreiz stellt offenbar den geringsten Stimulus dar. Ich halte auch nichts von Bestrafung. Etwa diese Idee, dass Nichtgeimpfte für die Behandlung im Spital zahlen sollen: Das lehne ich kategorisch ab, damit öffnen wir die Büchse der Pandora.

profil: Wien setzt stark auf PCR-Tests. Gibt es irgendeine Studie, die nachweist, dass man damit die Epidemie besser in den Griff bekommt?
Binder: Ergebnisse prospektiver Studien gibt es noch nicht. Wir gehen aber davon aus, dass es einen Vorteil bietet, mit qualitativ hochwertigen PCR-Tests zu arbeiten, statt mit Antigentests, die erwiesenermaßen eine geringere Sensibilität haben. Werden Superspreader auch mit Antigentests erkannt? Ja, da stimme ich zu. Aber wir brauchen die PCR-Tests auch, um zu sequenzieren, also nach neuen Mutationen zu suchen.

profil: An den Schulen herrscht Chaos – vor allem in Wien, wo zwei PCR-Tests pro Woche vorgeschrieben sind. Deren Auswertung dauert 24 Stunden. Wenn es so wichtig ist, infektiöse Kinder sofort zu isolieren: Warum nimmt man diese Wartezeit in Kauf?
Binder: Ideal wäre natürlich, sowohl einen PCR- als auch einen Antigentest zu machen. Wie man sieht, ändern sich die Schulregeln beinahe täglich. Vielleicht gibt es auch beim Testen noch Änderungen.

profil: Die 3G-Regel gilt in Wien schon für Kinder ab 6. Das heißt, die Kinder müssen permanent zum Test. Ist es fair, genau jene Bevölkerungsgruppe am allermeisten zu schikanieren, der das Virus am wenigsten anhaben kann?
Binder: Niemand hat die Absicht, Kinder zu quälen.

profil: Natürlich hat niemand die Absicht, aber es läuft darauf hinaus.
Binder: Es ist die Absicht, den Infektionsschutz hochzuhalten. In einer noch nicht impfbaren Gruppe bietet das Testen dafür eine gute Möglichkeit. Logistisch ist das in Wien ohne großen Aufwand möglich.

profil: Wann werden wir einander wieder die Hand schütteln?
Binder: Die vierte Welle wird steil sein. Wir können allerdings hoffen, dass nach dieser vierten Welle ein hohes Maß an Immunität in der Bevölkerung vorzufinden sein wird – durch Impfungen und durch überstandene Erkrankungen. Was uns derzeit fehlt, ist eine Seroprävalenzstudie, um zu sehen, wie viele Menschen bereits Antikörper gebildet haben.

profil: Mit dieser Forderung sind Sie nicht allein. Warum hat die Politik daran kein Interesse?
Binder: Das kann ich Ihnen leider nicht beantworten. Ich wäre sehr dafür, und zwar möglichst bald. In Großbritannien hat sich herausgestellt, dass die Seroprävalenz in manchen Bevölkerungsgruppen schon über 90 Prozent liegt. Wenn wir noch viele Menschen impfen und die unvermeidbaren Infektionen dazuzählen, haben wir nach dieser Welle vielleicht auch Grund zu Optimismus.

profil: Also Handshakes irgendwann im Herbst?
Binder: Ich hoffe es.

Rosemarie Schwaiger