Auf ihrem linken Handgelenk trägt Irina eine weiße Armbanduhr mit Strasssteinchen und Bändern aus biegsamem Kunststoff, der sich an ihren Arm wie eine zweite Haut schmiegt. Das außergewöhnliche Stück ist eines der letzten Überbleibsel ihres alten Lebens. 25 Jahre lang war die heute 59-Jährige Uhrenhändlerin; sie hatte ein Unternehmen im ostukrainischen Charkiw, das spezielle Uhren über das Gebiet der gesamten Ukraine vertrieb. Dann kam in den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 Putins Angriff; wenn sie von der Nacht der russischen Invasion erzählt, bekommt der Gesichtsausdruck der Frau mit den nachgezogenen Lippen und den akkurat geföhnten Haaren etwas Entsetztes. „Bum, bum, bum“, sagt sie, und ihre eigenen Worte katapultieren sie weit weg aus dem ukrainischen Restaurant Elvira’s in der Wiener Seidlgasse, wo sie an diesem Dienstag bei einer Tasse Espresso erzählt, an die umkämpfte ukrainisch-russische Front.
Die Flucht hat eine Art Pausetaste in Irinas Leben gedrückt. Seither lebt sie von der Grundversorgung, die ursprünglich Asylwerbern vorbehalten war. Das sind rund 400 Euro im Monat. Nach Abzug der Wohnkosten für das 17-Quadratmeter-Zimmer in Wien-Landstraße, Bad und Küche, die sie sich mit einer zweiten Frau teilt, bleiben ihnen gemeinsam 250 Euro, erzählt sie. Die studierte Ökonomin tingelt heute durch österreichische Discounter auf der Suche nach reduzierter Ware, sie wühlt durch Kisten in Sozialmärkten. Sie sucht Arbeit, und sie versteht, dass sie auf ihrem Qualifikationsniveau nie wieder etwas bekommen wird. Sie hat sich bereits mehrfach für Verkaufsjobs bei Lebensmittelketten beworben. Billa, Lidl, Spar. Keine Antwort. Putzen in Hotels, das sagt sie, will sie nicht.
Genauso geht es auch ihrer Freundin Natalia. Wie Irina ist auch sie aus Charkiw, auf ihrem Handy wischt sie über ihren dichten Lebenslauf, die 49-Jährige hat sowohl einen Medizin- als auch einen Jusabschluss. Hier in Österreich ist sie arbeitslos.
Probleme am Arbeitsamt
Dreieinhalb Jahre nach dem Kriegsausbruch beträgt die Erwerbsquote der ukrainischen Flüchtlinge in Österreich knapp 50 Prozent. Sie arbeiten vornehmlich in Branchen wie Tourismus, Gastronomie, Handel und Gesundheitswesen. Viele aber hadern immer noch bei der Jobsuche, und aus denselben Gründen, heißt es aus dem Büro des Flüchtlingskoordinators Andreas Achrainer.
Ein großer Anteil der 16.000 Ukrainer mit Vertriebenenstatus, die in Grundversorgung sind und daher nicht arbeiten (Stand Juni), sind Frauen mit Kindern und Betreuungspflichten, die hier allein sind und kaum Vollzeitstellen annehmen können. Auch weil oft die Kinderbetreuungsmöglichkeiten fehlen und sie deshalb in der Grundversorgung stecken bleiben. Zwar darf man in diesem Status 110 Euro dazuverdienen. Zudem gilt die sogenannte 65:35 Regelung: Von jedem Euro, den man zusätzlich verdient, werden 65 Cent an die Grundversorgungsleistung angerechnet, 35 Cent darf man behalten. Doch Expertinnen und Experten sagen seit Langem, dass dieses System falsch ist und die Sozialhilfe, einst Mindestsicherung, das bessere Mittel wäre. Mit ihr müssten die ukrainischen Flüchtlinge dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, was derzeit nicht der Fall ist – zumindest nicht flächendeckend.
Oberösterreich und Wien haben die sogenannte Bemühungspflicht für Ukrainer eingeführt. Jene, die in diesen beiden Bundesländern leben, sind angehalten, sich beim AMS als arbeitssuchend zu melden. Dort jedoch werde man mehr abgeschasselt als betreut, klagen nicht nur Irina und Natalia. Hilfe bei der Jobsuche bekäme man nicht, patzige und unzureichende Kommunikation sei dort an der Tagesordnung.
Man habe bereits mehr Unzufriedenheit unter den Ukrainerinnen und Ukrainern vernommen, heißt es aus dem AMS. Doch das liege daran, dass viele lediglich die Bestätigung holen wollen, um weiter Grundversorgung beziehen zu können – viele würde gar nicht arbeiten wollen. Dass es Ukrainer grundsätzlich schwer beim AMS hätten, weist man von sich.
Das AMS habe 6500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, es gebe, so wie in jeder anderen Organisation auch, solche, die bemühter sind als andere. Für wirkliche Streitfälle könne man sich aber an die Ombudsstelle wenden.
Ausbildung und Jobaussichten
Oleksandr Nadraha ist 39 Jahre alt. Der dreifache Vater durfte trotz Generalmobilmachung des ukrainischen Militärs die Ukraine verlassen. Die Tochter des ehemaligen Hafenarbeiters aus der Stadt Mykolajiw hat eine schwere Behinderung und mittlerweile Pflegestufe 7, eine höhere gibt es nicht. Er und seine Frau haben mithilfe intensiver Beratung der Volkshilfe dennoch Jobs gefunden, sie als Heimhilfe, er als persönlicher Assistent einer 49-jährigen Frau mit Beeinträchtigung. Wie schwer der Schritt aus der Grundversorgung in ein normales Leben war, schildert er anhand der Wohnungssituation: In dem Moment, wo er eine Arbeitsstelle gefunden hatte, musste er recht bald mit seiner Familie aus der günstigen Sozialwohnung ausziehen. Für die private Bleibe hatte er eine Kaution gebraucht. Von den Sozialhilfen, die die Familie bekommen hatte, konnten sie sich dafür mühsam etwas ansparen. Doch es sei eine sehr harte Zeit gewesen, sagt Nadraha.
Laut einer Studie des Österreichischen Integrationsfonds haben 75 Prozent der ukrainischen Vertriebenen akademische Abschlüsse. Das macht die Jobsuche nicht unbedingt leichter.
Die Turnusärztin Anastasiia
Petrenko kam knapp vor der groß angelegten russischen Invasion nach Österreich. Als ihre Landsleute zu Zehntausenden nach Österreich flüchteten, organisierte die heute 29-Jährige mit zwei Kollegen eine Telegram-Gruppe für ihre Medizinerkollegen, heute hat diese rund 800 Mitglieder. „Viele sitzen zu Hause oder beim AMS, dabei wären sie bereit zu arbeiten, und sie werden gebraucht“, sagt Petrenko, Turnusärztin in einem niederösterreichischen Spital.
Anfangs, sagt Petrenko, konnten ihre Ärztekollegen aus der Ukraine leichter in Jobs hineinschlüpfen – und zwar aufgrund der Regelungen der Coronapandemie: Das zweite Covid-19-Gesetz ermöglichte es auch pensionierten und karenzierten Ärzte zu arbeiten, und eben auch ausländischen, auch solchen, deren Sprachkenntnisse nicht so gut waren. Heute gelten wieder strengere Regeln, eine bestandene C1-Deutschprüfung, für die es mitunter zwei oder drei Jahre brauchen kann, ist Voraussetzung, um überhaupt mit der Nostrifizierung der medizinischen Abschlüsse zu beginnen – und diese dauert ebenfalls rund ein Jahr. „Es ist wertvolle Zeit, die verstreicht“, sagt Petrenko.
Und so bleibt auch in seinem Leben die Pausetaste gedrückt.